# taz.de -- Frühe ökologische Denkweisen: Sozialkritik und Natur | |
> Der Schweizer Historiker Milo Probst geht in seinem Buch „Anarchistische | |
> Ökologien“ dem Beginn des ökologischen Denkens nach. | |
Bild: Auf dürrem Gras: Es gibt Verbindungen zwischen Anarchismus und Ökologie | |
Der „Durchgang des Regenpfeifers und Aufstand der Pariser Bevölkerung“, | |
Blumen und Streiks, der Stand des Mondes und jener der Bewegung: In | |
kalendarischen Einträgen in anarchistischen Zeitschriften am Ende des 19. | |
Jahrhunderts verknüpften sich Natur- und Sozialgeschichte, forschende | |
Beobachtung und politischer Anspruch auf Emanzipation. | |
Der Schweizer Sozialhistoriker Milo Probst nimmt diese Kombinationen zum | |
Ausgangspunkt seiner Untersuchung zur „anarchistischen Ökologie“. Darunter | |
versteht er vielgestaltige Themenfelder wie Eigentum, Technik, Erziehung | |
und Globalisierung, „in denen die Verhältnisse zur Natur Gegenstand von | |
politischen Erwägungen über die Voraussetzungen, Ziele und Formen | |
menschlicher Emanzipation waren“. | |
Schon vor rund 30 Jahren war der Politikwissenschaftler Rolf Cantzen den | |
Verbindungen zwischen Anarchismus und [1][Ökologie] in seinem Buch „Weniger | |
Staat – mehr Gesellschaft“ (1995) nachgegangen. Ganz neu ist die Idee, die | |
ökologischen Dimensionen in anarchistischer Theorie und Praxis | |
herauszuarbeiten, also nicht. Aber Probst setzt viel größer an. Er stellt | |
nicht nur ökologische Inhalte in Texten anarchistischer Klassiker dar, | |
sondern widmet sich einer Vielzahl von Debatten und Praktiken, die von | |
großen Entwürfen ebenso handeln wie von vermeintlich Nebensächlichem wie | |
eben Kalendereinträgen. Der Neuentwurf menschlicher Beziehungen jenseits | |
von Staat und Kapital wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts auf | |
nichtmenschliches Leben ausgeweitet. | |
Probst knüpft auch an sein eigenes Buch „Für einen Umweltschutz der 99 %“ | |
(2021) an, das den Slogan der Occupy-Bewegungen auf die Ökologiefrage | |
bezieht und auch schon tief in der Geschichte anarchistischer | |
Gedankenwelten herumgräbt. Die transnationale Dimension, die das Kursieren | |
[2][anarchistischer Ideen] auch hatte, wird auch im neuen Buch detailreich | |
nachgezeichnet. | |
Dass damit nicht immer nur Emanzipatorisches verbunden war, zeigt Probst am | |
Beispiel des argentinischen Anarchismus. Dieser war zu Beginn des 20. | |
Jahrhunderts nicht nur in Lateinamerika sehr einflussreich. In ihrer | |
Konzeption des „leeren Landes“, auf dem sie ihre Projekte umsetzen wollten, | |
unterschieden sich die Anarchisten kaum von moderner Staatlichkeit: Ihre | |
zivilisatorische Mission hatte keinen Platz für Indigene, die bestenfalls | |
ausgeblendet wurden. Es gab „Grauzonen zwischen kolonialer Herrschaft und | |
sozialkritischer Utopie“, die auch in der anarchistischen | |
Geschichtsschreibung kaum vorkommen. | |
Die Strategie des „sozialistischen Beginnens“ (Gustav Landauer) im Hier und | |
Jetzt hat aber auch viel Befreiendes hervorgebracht. Dabei ist die Idee, | |
dass sich emanzipatorische Veränderungen in den „Spalten zwischen | |
Herrschaftssystemen“ entwickeln, so tröstlich wie ernüchternd. Tröstlich, | |
weil wir sicher sein können, dass es sie geben wird, solange es Geschichte | |
gibt. Ernüchternd, weil diese Vorstellung vom emanzipatorischen Neuanfang | |
schon die Boheme, die kulturellen Avantgarden, die [3][Subkulturen] und | |
Neuen Sozialen Bewegungen der letzten hundertzwanzig Jahre geprägt hatte. | |
Besonders erfolgreich war diese Strategie präfigurativer Politik, wie sie | |
heute genannt wird, nicht allzu häufig. | |
Dass es sich dennoch lohnt, sie zu aktualisieren, kann Milo Probsts Buch | |
allemal zeigen. Es beansprucht nicht mehr und nicht weniger zu sein als ein | |
Hinweis darauf, dass wir „bei der Neuerfindung eines emanzipatorischen | |
Projektes nicht ganz von vorne beginnen müssen“. Dieser Anspruch wird so | |
systematisch wie innovativ und gut lesbar eingelöst. | |
3 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Jens Kastner | |
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