| # taz.de -- Mike-Kelley-Retrospektive in Düsseldorf: Der Geist der Adoleszenz | |
| > Ein Anarchismus wie ihn nur die USA hervorgebracht haben: Dem 2012 | |
| > verstorbenen Künstler Mike Kelley gilt eine sehenswerte Retrospektive in | |
| > Düsseldorf. | |
| Bild: Kuscheltiere und Künstler auf Fahndungsfotos: Mike Kelley, „Ahh…Yout… | |
| Es gibt viele Mike Kelleys. Man weiß manchmal gar nicht, welcher von ihnen | |
| bis heute so viel Einfluss auf die Gegenwartskunst gehabt haben soll. So | |
| nämlich wird die Rolle des US-amerikanischen Konzept- und | |
| Performancekünstlers, der sich 2012 im Alter von 57 Jahren in Los Angeles | |
| vermutlich das Leben nahm, in der Kunstkritik meist gewertet. Auch in der | |
| jetzigen, großen Mike-Kelley-Retrospektive im Düsseldorfer K21. Dort wird | |
| nun in Deutschland zum ersten Mal nach seinem Tod sein opulentes, | |
| experimentelles, verstörendes Werk gezeigt. | |
| Da ist der angehende Künstler Kelley aus einfachen Verhältnissen, | |
| aufgewachsen in einem Vorort von Detroit, mit seinen trashig wirkenden, | |
| aber schon in den 1970er Jahren präzise durchdachten DIY-Performances zu | |
| sehen. Mit selbst gebauten Staffageobjekten arbeitete er sich darin an dem | |
| Formalismus seiner Lehrergeneration an der Kunsthochschule ab, die er in | |
| Michigan und Kalifornien besuchte. | |
| Da ist der okkulte Mike Kelley, der den strengen Katholizismus seiner | |
| Familie in psychedelischen Selbstinszenierungen verarbeitete. Ektoplasma | |
| scheint ihm in seiner Poltergeist-Fotoserie von 1978 aus Nase und Ohren zu | |
| quellen, als sei er von einem übersinnlichen Wesen in Beschlag genommen | |
| worden. Doch der schäumende Stoff besteht nur aus Baumwolle. | |
| Und da ist Kelley, der Punk, der als Jugendlicher in der linksradikalen | |
| White Panther Party aktiv war, die Rocker von „The Stooges“ oder Sun Ra zu | |
| seinem Umfeld zählte und viele Jahre mit [1][dem bildenden Künstler Tony | |
| Oursler zusammen] die Band The Poetics betrieb. Seine wohl bekannteste | |
| Bildserie „Ahh… Youth!“ von 1991 schaffte es [2][auf ein Plattencover von | |
| Sonic Youth]. | |
| ## Die Bürde elterlicher Liebe | |
| „Ahh… Youth“ ist ein Initialwerk in der Ausstellung. Es sind Fahndungsfot… | |
| von selbst angefertigten Kuscheltieren mit niedlich-schrägen Gesichtern aus | |
| Knöpfen und Nähten, vom Gebrauch ihrer vormaligen Besitzer:innen ganz | |
| lädiert. Diese vermutlich von Verwandten in mühevoller Handarbeit genähten | |
| Stofftiere, die Kelley von Flohmärkten oder Müllhalden aufsammelte, | |
| arrangierte er auch dicht auf großformatigen Tableaus an der Wand und baute | |
| damit die gebündelte Liebe der Handwerksobjekte zur emotionalen Bürde auf. | |
| Das beschenkte Kind wurde bei ihm vielmehr zu einem durch Liebe belasteten | |
| Kind. | |
| Das Publikum las damals aus Kelleys Stofftier-Sammlung eine Geschichte des | |
| Missbrauchs in der Kindheit des Künstlers selbst. Kelley reagierte auf | |
| dieses überraschende Narrativ, wie er es in seiner Kunst so häufig machte: | |
| Für seinen „Educational Complex“ rekonstruierte er Orte seiner Kindheit und | |
| Jugend, ließ Wohnhaus, Schule und Kunsthochschulen als kleine | |
| Architekturmodelle maßstabsgetreu nachbauen und zu einem Sinnbild des | |
| Heranwachsens in den USA der 1960er bis 1980er werden. | |
| Nur fehlen ihnen jene Räume, an die sich Kelley nicht erinnern konnte. | |
| Offenbarung seines Traumas? Vielmehr ist der „Educational Complex“ die | |
| Verballhornung einer Populärpsychologie, die in den späten 1980er als | |
| False-Memory-Syndrom die allgemeine Stimmung in den USA beflügelte. Der | |
| „Educational Complex“ fügt in der Ausstellung die verschiedenen Kelleys | |
| zusammen. Denn man versteht: Bei diesem Künstler ist alles ein | |
| Missverständnis. Konzept, theoretisches Konstrukt oder Glaube werden in | |
| seiner Kunst zum Irrtum. | |
| ## Krippenspiel, Peep-Show, tiefer Anarchismus | |
| Erinnern an den zu früh verstorbenen Mike Kelley will man sich in | |
| Düsseldorf mit seinem letzten, nie enden wollenden Performanceprojekt: „Day | |
| is Done“ ist eine reizüberflutende multimediale Musicalshow mit | |
| bühnengroßen Videoprojektionen, auf denen Laiendarsteller:innen ein | |
| Krippenspiel, eine Peep-Show oder die folkloristischen farm girls | |
| inszenieren. Dazu gibt es eine Lichterorgel, rotierende Vorhänge und | |
| Geisterbahn-Gekreische aus dem Lautsprecher. | |
| Hier erwachen wieder die Geister der US-amerikanischen High-School-Jahre. | |
| Kelley hat die vermengten Bühnenschnipsel auch aus alten Schuljahrbüchern | |
| rekonstruiert und zu einem fiktiven Rummelplatz einer kollektiven | |
| US-amerikanischen [3][Adoleszenz] gemacht. Die hat bei diesem Künstler | |
| einen tiefen Anarchismus hervorgebracht. „Ein Jugendlicher ist ein | |
| dyfunktionaler Erwachsener und Kunst, was mich betrifft, eine | |
| dysfunktionale Realität“, schrieb Kelley einmal. | |
| 8 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophie Jung | |
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