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# taz.de -- Film über Radikal-Künstler Tony Conrad: Ein heiterer Verächter v…
> Der Dokumentarfilm „Tony Conrad – Completely in the Present“ stellt eine
> der großen Radikalitätslegenden des 20. Jahrhunderts vor.
Bild: Ein überbordendes, zuweilen überforderndes Lebenswerk: Tony Conrad
Tony Conrad, so wird in Tyler Hubbys Dokumentarfilm deutlich, steht für
eine Radikalität künstlerischen Lebens und Arbeitens, von der heutige
Akteure nur träumen können – deswegen sehnt sich die aktive Generation von
Kurator_innen und Künstler_innen heute so heftig nach den Unbedingtheiten
der in den 30er und 40er Jahren Geborenen.
Dabei ist das Erfolgsrezept recht einfach: Tony Conrad hat immer Wert
darauf gelegt, extrem billig, anspruchslos und dadurch unabhängig zu leben;
er wollte anders als seine Zeitgenossen wie La Monte Young, Philipp Glass
oder Steve Reich nicht ein Komponist neuer Art werden, sondern „die Figur
des Komponisten aus der Struktur kultureller Programme eliminieren“ und
schließlich, wie es ein Freund formuliert: „Er hat ein extremes Misstrauen
gegen Autoritäten und autoritäre Strukturen.“
Auch wenn das Dreckloch in der Ludlow Street, für das Conrad und seine
wechselnden WG-Genossen wie John Cale und Jack Smith knapp 26 US-Dollar
Monatsmiete bezahlt haben, heute mindestens das Hundertfache kosten dürfte,
weiß Conrad auch andere praktische Tipps für das unabhängige,
antihierarchische Leben.
Chronologisch entwickelt die Doku, die sich auf ausführliche Interviews mit
dem 2016 verstorbenen Musiker, Filmemacher, Künstler, TV-Aktivist stützen
kann, die Vielfalt der Interessen und Projekte des studierten Mathematikers
und Sohn eines verhinderten Künstlers, deren einziges gemeinsames Merkmal
die radikal unabhängige Kritik aller künstlerischen Genres, Gewohnheiten
und Institutionen darstellt.
Mit dem Theatre of Eternal Music (1963–65) ging es um die Abschaffung von
traditioneller musikalischer Zeitlichkeit, um eine neue kompositorische
Kollektivität und um die Verwirklichung einer Musik, die die Trennung von
Produzent und Rezipient aufhebt, indem der Klang, nachdem er den
produzierenden Körper verlassen hat, im Raum stehen bleibt.
## Freude an wertloser Kultur
Mit Jack Smith verband ihn die Ablehnung der herrschenden
Geschlechterordnung ebenso wie die Freude an wertloser Kultur, gefundenen
oder gestohlenen Kostümen, Schallplatten und Filmrollen.
Kurzfristig spielt er mit Lou Reed, dem Minimal- und Land-Art-Künstler
Walter De Maria und seinem Eternal-Music-Kollegen John Cale in einer von
einer Billigplattenfirma zusammengestellten Rockband namens The Primitives,
deren Gitarren alle auf einen Ton gestimmt waren: Für Conrad eine
interessante Parallele zu seiner Minimal Music, ausgerechnet im dunklen
Herz der kulturindustriellen Bestie. Aber er hielt sich mit Projekten nur
so lange auf, wie sie einen Gedanken trugen.
Als dann Cale und Reed The Velvet Underground gründen, schenkt er ihnen nur
den Bandnamen und geht seiner Wege: schon 1966 hat sein Film „The Flicker“
Premiere. Das extreme psychedelische Kunstwerk par excellence – schwarze
und weiße Bilder wechseln im hohem Tempo einer Partitur, die
Stroboskop-Effekte produziert und, wie ein Zeitzeuge meint, Halluzinationen
bewirkt, die „LSD überflüssig machen.“
## Er mariniert und kocht Filme
Mit seiner Lebenspartnerin Beverly Grant – der „Underground Queen der
1960er“, wie Conrad scherzt – vertieft er diese (und andere) Projekte bis
in die 70er. Als immer mehr Filmemacher-Männer das Material selbst
attackieren, zerkratzen, verbrennen etc., konzentriert er sich auf die
„hausfrauliche“ Antwort auf diese Sorte Experimentalfilm: Er mariniert und
kocht Filme und legt sie sauer ein.
Für Hubbys Dokumentation spricht aber auch, dass er den aus der Perspektive
heutiger Radikalitätsverehrung weniger heroischen Jahren Conrads genauso
viel Platz widmet wie den großen Momenten an Violine, Kamera oder als
antiautoritärer Straßenwarhol der Lower Eastside. Conrad baut als Professor
erst in Albright und dann vor allem an der staatlichen Universität in
Buffalo ein frühes interaktives Fernsehprojekt auf, das von
Hausaufgabenhilfe für Kinder bis zu Community-Diskussionen lauter
Prä-Internet-Angebote konzipiert und realisiert.
Hausaufgaben sind für Conrad die zweitschlimmste menschliche Einrichtung
nach Krieg – und Kriege und Gefängnisse bleiben ein weiteres großes Thema
von den 1970ern bis zu seinem Tod: von dem Spielfilm „Beholden to Victory“
um eine verloren gegangene Armeeeinheit bis zu der Gefängnisinstallation in
der Wiener Kunsthalle Ende 2014.
## Freundschaft mit Mike Kelley
Bei den Dreharbeiten zu „Beholden to Victory“ entsteht die Freundschaft mit
Mike Kelley und dem in diesem Film als Zeuge sehr präsenten Tony Oursler
und damit der Beginn der Entdeckung Conrads durch eine neue Generation.
Auch dies ist sehr gelungen: Der Austausch mit einer jüngeren Gruppe von
Künstler_innen und dessen Einfluss auf Conrads Arbeit seit den frühen 90ern
ist ein weiteres eigenes Kapitel.
Dazu gehören die Filmemacherin Marie Losier, Conrads Buffalo-Kollegin
Jennifer Walshe, Musiker wie David Grubbs und Jim O’Rourke, der Kurator
Jay Sanders, vor allem aber der Musikkurator und hier vielleicht
profundeste Fan Jeff Hunt, der mit seinem Label Table of the Elements dafür
gesorgt hat, dass der um 1990 weitgehend vergessene Musikrevolutionär und
Musiküberwinder mit frühen („Four Violins“) wie neuen („Slapping
Pythagoras“) Arbeiten verfügbar wird – und allem was dazwischen liegt, wie
die legendären Sessions mit Faust und Uwe Nettelbeck im Wümme-Studio in den
frühen 1970ern.
Die nervende amerikanische Doku-Konvention, noch die banalsten
überleitenden Nebensätze stets von gut ausgeleuchteten Zeitzeugen sprechen
zu lassen, wird hier nicht ganz so sklavisch eingehalten wie in
vergleichbaren Arbeiten. Das Überbordende, zuweilen Überfordernde an
Conrads Lebenswerk wird triftig und didaktisch zusammengeschnürt, ohne
seiner Komplexität allzu viel Gewalt anzutun.
## Idee der Urheberschaft ad absurdum führen
Der in jeder Hinsicht brisante Streit zwischen Cale und Conrad auf der
einen Seite und ihren Theatre-of-Eternal-Music-Mitstreitern La Monte Young
und Marian Zazeela auf der anderen – darum, wer der rechtmäßige Urheber von
Werken sei, deren Sinn es doch ist, die Idee der Urheberschaft ad absurdum
zu führen – wird zweimal gestreift, ohne dass man ausreichend über die
musikalisch-mathematischen Ideen der „just intonation“ erfährt.
Auch die politische Theorie von Conrads Abrechnung mit Pythagoras und der
Idee einer musikalisch-kosmischen Ordnung kommt etwas zu kurz. Aber ich
vermöchte auch nicht sagen, auf welchen Werkteil man dafür hätte verzichten
sollen.
Für alle, die die Monographie des ebenfalls als Erläuterer reichlich
eingesetzten Branden Joseph („Beyond The Dream Syndicate“, 2008) nicht
gelesen haben, ist Hubby eine sehr nützliche Einführung in eine der großen
Radikalitätslegenden gelungen. Anders als Mitbewerber in dieser Kategorie
wie auf der einen Seite Guy Debord und auf der anderen John Cage, das macht
die Dokumentation erfreulich deutlich, ist Conrad weder wunderlich und
weltfremd noch bitter und kulturpessimistisch geworden. Er war ein
heiterer, lebenszugewandter und lebenskluger Verächter von Autoritäten.
Er warf niemanden vor, ihn nicht oder missverstanden zu haben, obwohl er
gute Gründe gehabt hätte.
11 Jan 2018
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
## TAGS
Dokumentarfilm
Ausstellung
Weltmusik
CTM
Tony Conrad
Tony Conrad
Faust
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