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# taz.de -- Violinist und Filmemacher Tony Conrad: Töne auf Tieftauch-Trips
> Tony Conrad kommt nach Berlin, um beim Festival „Berlin Atonal“ mit der
> Krautrockband Faust aus ihrem gemeinsamen Album zu spielen.
Bild: Strenger als er aussieht: Tony Conrad (nicht im Bild: seine Violine)
Tony Conrad ist wahrscheinlich der interessanteste Mensch der Welt. Er war
bei allem, was wir aus den letzten 55 Jahren heute relevant finden, dabei;
aber immer circa fünf Jahre vor allen anderen. Doch anders als die meisten
Leute, die auf so ein Leben zurückblicken, ist er nicht verbittert.
Er arbeitet weiter an der Erneuerung der Welt und hat aber auch nicht die
geringsten Probleme damit, sich für frühere Leistungen hochleben zu lassen
– zum Beispiel für das Album „Outside The Dream Syndicate“, das er im
Oktober 1972 in Wümme gemeinsam mit Mitgliedern von Faust aufnahm und das
er nun in Berlin wiederaufführt, nicht zum ersten Mal übrigens: Schon in
den neunziger Jahren, als Tony Conrad dank der Initiative von Musikern aus
der Postrock-Community wie David Grubbs wiederentdeckt wurde, wollte man in
London eine Rekonstruktion dieses Albums hören, das in mancher Hinsicht ein
Solitär geblieben ist, wenn auch ein mit Verzögerungen sehr
einflussreicher.
Aber zurück zum interessantesten Menschen. Conrad begann als Mathematiker
und Violinist. Das radikal abstrakte, ebenso anarchistische wie logische
Denken, das er mit seinem Freund Henry Flynt gemeinsam betrieb, führte sie
zum Wunsch nach einer Überbietung der seriellen Kompositionen der fünfziger
Jahre, wie man sie beeinflusst von Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen
bei den berühmten Darmstädter Ferienkursen pflegte. Dieser Musik, der man
nur noch komplexe Strukturen ablauschen soll, die aber keine diese
spezifische Sinnlichkeit mehr hervorbringt, kann man nur entgegentreten,
wenn man zum einen ganz auf Sinnesdaten verzichtet, zum anderen die
Sinnlichkeit der Kunst zu einem Maximum treibt.
Das Erste sollten die „Wordpieces“ leisten, die Flynt, Conrad, aber dann
auch ihr Freund La Monte Young oder frühe Fluxus-Künstler und Cage-Schüler
wie George Brecht produzierten: rein gedankliche Komplexität. Henry Flynt
erfand dafür das Wort „Concept Art“. Das maximal sinnliche Gegenstück
produzierten Conrad und Young in einem Quintett, das sich der stundenlangen
kontinuierlichen Aufführung von einzelnen Intervallen widmete: Violine,
Viola und Stimme führten diese allerdings in der sogenannten „reinen
Stimmung“ auf, also nicht nach der westlichen temperierten Skala, bei der
alle Töne den gleichen Abstand haben, sondern dem Eigencharakter der
Intervalle folgend – wie es bei vielen nichtwestlichen Musiken üblich ist.
## Töne bleiben im Instrument
Das Quintett, dem zwischen 1962 und 1965 neben Conrad, Young und Marian
Zazeela auch die beiden späteren Velvet-Underground-Gründer John Cale und
Angus MacLise angehörten, folgte der Idee, dass die so lang wie möglich
angehaltenen Töne den Körper, das Instrument nicht verlassen sollten, mit
dem sie sich im selben Raum aufhielten: Sie wurden weiter erzeugt, obwohl
sie doch schon im Raum waren. Die Kontinuität sollte nicht unterbrochen
werden, die klassische Vorstellung einer Kunst als Produktion, die
unabhängig von den Produzenten existiert, wurde zurückgewiesen.
Wenige Jahre später war das Quintett zerstritten. Seine künstlerischen
Absichten und der Streit darum sind auch dadurch überliefert, dass zwei
Namen kursieren: Young spricht vom Theatre Of Eternal Music, Conrad vom
Dream Syndicate – den Namen hatte sich dann später eine neopsychedelische
Combo der frühen Achtziger ausgeliehen. Für Conrad waren die mehrstündigen
Drone-Sessions protorevolutionäre Handlungen, für Young dienten sie
spirituellen und disziplinarischen Zielen.
Conrads – mindestens: wenn man die Jahre mit Jack Smith mal rauslässt –
zweite Jahrhunderttat war der Film „The Flicker“, ein Experiment mit
Lichtblitzen, 4 bis 24 pro Sekunde, die bei einer knappen halben Stunde
Laufzeit die Sinne maximal überfordern – eine Warnung an Epileptiker geht
diesem radikalsten Stück Psychedelia aus dem Jahr 1965 voran. Die Siebziger
sehen Conrad dann unter den Lehrenden der legendären Neue-Medien-Fakultät
der University of Buffalo – er lehrt heute noch dort – und mit weiteren
radikalen Experimenten in jede Richtung beschäftigt (Filme, die sauer
eingelegt werden oder solche, deren Geschichte das langsame Vergilben einer
Leinwand ist), aber auch politische Alltagsarbeit mit Video beschäftigt
ihn, Videos mit Mike Kelley und Tony Oursler entstehen. Und so fort.
Im Sommer 1972 schickt ihn La Monte Young nach München zu den Olympischen
Spielen, in deren Rahmenprogramm dessen Installation „Dream House“
aufgebaut und von zuverlässigen Kräften gewartet werden muss. Conrad
übernimmt den Auftrag seines ehemaligen Freundes und immer mal wieder
Feindes und kommt in die BRD. Uwe Nettelbeck, berühmter Film- und
Popkritiker und, wie man neuerdings dank einer in Buchform erschienen
Sammlung von Prozessartikeln aus den Sechzigern wieder nachlesen kann:
Gerichtsreporter der Zeit, war nach seinem Ausstieg aus der bürgerlichen
Presse zum Initiator der experimentellen Rockband Faust geworden.
## Studio auf einem Bauernhof
Diese lebte unter kommuneartigen Bedingungen in und um ihren Bauernhof cum
Recordingstudio in einem niedersächsischen Dorf an der Wümme und lud den
sich in der BRD herumtreibenden Experimentalkünstler zur Kollaboration ein.
Conrad, dessen weitreichendes Wirken, Treiben und grenzenlose
Interessantheit vor ein paar Jahren von Branden Joseph in der opulenten
Studie „Beyond The Dream Syndicate – Tony Conrad and the Arts After Cage“
(Zone Books) und dem kleineren Annex „The ROH and the Cooked – Tony Conrad
and Beverly Grant in Europe“ (August Verlag) gewürdigt worden waren, sagte
neulich in einem Gespräch, das wir anlässlich seiner Ausstellung in der
Kunsthalle Wien führten, dass er sich ja für vieles zuständig fühle, nur
nicht für Rockmusik. Dass man ausgerechnet ihn immer wieder auf Dinge wie
Velvet Underground anspreche, könne er nicht verstehen.
Dabei hat Conrad nicht nur den S/M-Schmöker mit dem Titel in der Wohnung
liegen gehabt, von dem die Band sich ihren Namen holte. Er hat nicht nur
mit Cale und MacLise das Syndicate gegründet. Nach langen meditativen
Drone-Sessions mit diesem, schrammelte er in den Abendstunden des Jahres
1964 mit Cale und einem anderen Velvet-Gründer, nämlich Lou Reed, unter dem
Namen The Primitives Ein-Akkord-Rock-Songs für fiktive Bands eines
Fließband-Labels zusammen, für die Reed als Staff-Songwriter schuftete.
Die langjährige gegenseitige Befruchtung von Rock und Minimal Music steht,
wenn auch ziemlich implizit, im Zentrum von Conrads Schaffen. Und auch bei
der in dieser Hinsicht maximal minimalen „Metal Machine Music“ beruft sich
Lou Reed in den Liner Notes ausdrücklich auf Conrads Einfluss (wenn auch
hauptsächlich den seiner Filme). Explizit und gezielt gestaltet wurde
dieser Zusammenhang von Conrad dann in der Tat nur einmal – in der
Zusammenarbeit mit Faust.
Auf der Vinyl-Urfassung gibt es zwei Stücke: Auf der ersten Seite (“From
The Side of Man- and Womankind“) hält die Faust-Rhythmusgruppe stoisch
einen maschinellen Beat, während Conrad auf der Violine versucht, seiner
neuesten Revision der Theorie der „reinen Stimmung“ Ausdruck zu verleihen.
Wollte diese ursprünglich die gewaltsame gleichmacherische Definition von
Tönen durch abendländische Klaviere und andere Uniformisierungen von
Tonabständen durch eine „natürliche“ Stimmung konterkarieren, ist Conrad
mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass auch diese natürliche
Stimmung den kleinen Abweichungen und Verschleifungen Gewalt antut.
Es geht aber gerade um diese Töne und Übergänge. Die Abgründe sind in den
Nuancen und seine Violine stürzt sich in diese mit hinreißender,
selbstvergessener Leidenschaft, während im Hintergrund ausgerechnet die
anarchischen Faust sich in ein ultradiszipliniertes, bewaffnetes Metronom
zu verwandeln scheinen.
## Den Beat halten
Das andere Stück, „From the Side of the Machine“, lässt dagegen den
ästhetischen Mechanismen der Hippie-Ästhetik (hier ein Floyd-beatmetes,
tastendes Schlagzeug) der Deutschen mehr Raum. Conrads Tieftauch-Trips
werden noch intensiver, setzen sich aber nicht so stark vom Rest der Musik
ab; das Maß fehlt. In späteren Editionen sind dann immer mehr zusätzliche
Varianten der beiden Stücke veröffentlicht worden, gerade die auf der
ersten CD-Ausgabe von 1993 hinzugekommene Nummer „From the Side of Woman-
and Mankind“) wird gegen Ende noch stärker.
Die sonst so verspielten Faust haben ihre Kollaboration mit dem strengen
Conrad nie bereut. Es sei wahnsinnig anstrengend gewesen, so lange nur
einen Beat zu halten, aber die Praxis hätte schließlich zu Sensationen und
Erfahrungen geführt, die Filmfreunde bis heute bei „The Flicker“ erwischen.
Nur eines könne man nie wirklich lernen: Es sei bei dieser Musik wahnsinnig
schwierig, sich auf der Bühne darauf zu einigen, wann genau Schluss sein
soll. Man wird von dem sowohl monotonen wie extrem schweifenden Geschehen
irgendwo hingetragen, wo es schwer ist, an Absprachen zu denken.
Mal sehen, ob und wie es diesmal gelingt: das Beenden der doch eigentlich
ewigen, endlosen Musik.
21 Aug 2015
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
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Faust
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