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# taz.de -- Mayo Thompson und Scott Walker: Fiepen aus dem Kalten Krieg
> Schlaue Musik: „Baby and Child Care“ von Mayo Thompsons Band The Red
> Krayola und „The Childhood of a Leader“ von Scott Walker.
Bild: Mehr Licht: Mayo Thompson und sein konstruktiver Gesangsvortrag
Kindheit, sogenannte formative years, Prägungen, Freiheit, Individualität –
die Konflikte, die in den noch stark von Disziplinarinstitutionen wie
Schule, Fabrik, Militär geprägten 1950er Jahren um Konformismus und
Freiheit entstanden, sind weitgehend vergessen und umgelabelt worden.
Solange das Übel in falschen Institutionen lokalisierbar war, konnte man
über andere nachdenken und versuchen, den gesellschaftlichen Einfluss, den
es weder auf der Straße noch in Wahlen zu gewinnen gab, über die Erziehung
(oder eben gerade Nichterziehung) der nächsten Generation zu gewinnen.
Wenn auf Deutsch von Dr. Spock die Rede ist, kann man davon ausgehen, dass
jemand dem Vulkanier vom Raumschiff „Enterprise“, von dessen
Intellektualität beeindruckt, einen Titel verliehen hat, den er in der
Serie gar nicht trägt.
## Ratgeber Dr. Spock
In den USA war ein anderer Dr. Spock eine weithin berühmte Figur, und jeder
wusste, dass sie nicht mit Mr. Spock verwandt oder verschwägert war. Dr.
Benjamin Spock ist mit seinem Doktortitel bekannt, weil er seinen Ruhm
ärztlicher Ratgeberliteratur verdankt. Nach 1945 rüttelte er das noch ganz
autoritätsfixierte, patriarchale Amerika mit einer Reihe von populären
Werken auf, die erstmals das kleine Kind als individuelle Person
beschreiben. Nicht wie bis dahin üblich als ein von allgemeinen
Entwicklungsstadien determiniertes präindividuelles Gattungswesen habe man
sich sein Baby vorzustellen, sondern als von Anfang an mit einer
Persönlichkeit ausgestattet.
Das verbiete, angemessenes Verhalten, den richtigen Zeitpunkt etwa des
Spracherwerbs und anderer Fertigkeiten normativ festzulegen. Mit dem
enormen Erfolg dieser einfühlsam geschriebenen Bücher konnte sich aber Dr.
Spock eine zweite große Intervention leisten. Jahrelang war er eine der
Leitfiguren der US-Linken in verschiedenen Stadien. Er beteiligte sich an
der Bürgerrechtsbewegung und war in einer kurz vor dessen Tod geplanten
Präsidentschaftskandidatur von Martin Luther King als Bewerber um die
Vizepräsidentschaft vorgesehen.
Später nahm er diese Rolle ebenso wie die des Spitzenkandidaten dann
tatsächlich ein und kandidierte für ein progressives Bündnis, dessen
vordringliches Ziel die Beendigung des Vietnamkriegs war. Spock
befürwortete und unterstützte auch Maßnahmen des zivilen Ungehorsams –
alles mit dem Credit des Mannes, der uns geholfen hatte, unsere Babys
richtig zu verstehen.
„Die Kindheit eines Chefs“ erzählt gewissermaßen das Gegenteil: Ein
großbürgerlicher, durchaus individuell erzogener Junge, der sexuell und
kulturell verunsichert, gegenüber scheinbar transgressiven Experimenten
offen ist, sich – um 1938 in Frankreich – auf Surrealisten und einen
schwulen Dandy einlässt, landet schließlich im Konformismus einer
antisemitischen rechtsradikalen Organisation und transformiert sich, auf
die vermeintlichen Fixpunkte Nation und Ethnie zurückgeworfen, bis er
schließlich in der Lage ist, das väterliche Unternehmen zu übernehmen: Er
wird zu einem „Chef der Franzosen“ und lässt sich einen kleinen Schnurrbart
wachsen.
Er entkommt seiner männlichen Unsicherheit nur, indem er selbst die
Repression ausübt. Für Jean-Paul Sartre, dem wir diese Erzählung verdanken,
bedeutete dies natürlich auch, dass die existenzialistische Wahl sich eben
gerade nicht darin erschöpft, ein Klassenschicksal und die darin
vorgesehenen Freiheitsdosen zu leben. Es kommt nicht darauf an, was man aus
uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns
gemacht hat.
Zwei Diskurse der 1950er Jahre – Existenzialismus und revolutionäre
Pädagogik – und zwei große US-Musiker, die sich ihrer auf verschlungene,
gespiegelte Weise annehmen. Mayo Thompson veröffentlicht 2016 eine bereits
1984 eingespielte Auseinandersetzung mit Spock, Scott Walker steuert den
Soundtrack für eine neue äußerst ambitionierte Verfilmung der
Sartre-Erzählung bei.
Diese hat der junge Schauspieler Brady Corbet (auffälliger Nebendarsteller
in „Die Wolken von Sils-Maria“ und „Melancholia“) gedreht und im Zentrum
seiner Ambitionen stehen teure, edle Materialien: 35-mm-Film, schön
rekonstruierte halbbeleuchtete Interieurs aus den 1930er Jahren und ein
120-köpfiges Orchester, für das er Scott komponieren ließ.
## Kulturelles Material als strahlende Präparate
Zwei brillante Gelegenheiten also, vermeintlich erledigtes kulturelles
Material als kleine strahlende Präparate anzuschauen, die heutige Diskurse
verwirren könnten: wenn diese oft die Formation faschistischer Subjekte nur
über deren Abgekoppeltheit zu rekonstruieren versuchen oder wenn es
allenthalben wieder heißt, dass Kinder vor allem „Führung“ brauchen.
1984 sehen wir Thompson und seine Red Krayola zum letzten Mal für lange
Zeit, nämlich bis 2007, mit der ruhmreichen konzeptkünstlerischen
Organisation Art & Language zusammenarbeiten. Bisher hatten diese
Zusammenarbeiten (an den Alben „Corrected Slogans“, 1976, „Kangaroo?“,
1981, und „Black Snakes“, 1983) eng mit den künstlerischen Projekten der
zuletzt meist als Duo tätigen Gruppe zu tun.
Arbeiteten die beiden etwa an einer Serie von Gemälden, deren Titel Helden
und Szenen der Sowjetunion bebilderten, stets mit dem Zusatz „… in the
style of Jackson Pollock“ (so dass man im Effekt natürlich nur ein
Pollock-Bild sah, in das man einen Lenin „hineinsehen“ musste), dann gab es
auf dem dazugehörigen Red-Krayola-Album einen zweiteiligen Song, der die
Mythen Jackson Pollock und Lenin für Kunstwelt und Linke analytisch
nachzeichnete – durch seine Form als State-of-the-art New-Wave-Funk-Song
mit einem komisch-sarkastischen Effekt.
Bei diesem Projekt von Mayo Thompson scheint es sich um eines zu handeln,
das, aus unbekannten Gründen unveröffentlicht, gar kein zweites Bein im
Universum der bildenden Kunst gehabt hat. Art & Language haben per
Paraphrase von Spock-Zitaten die Texte generiert. Musikalisch stellt „Baby
and Child Care“ die letzte Zusammenarbeit zwischen Mayo Thompson und Allen
Ravenstine dar, den genialen Störgeräusche-Experten von Pere Ubu, der mit
Thompson bei Red Krayola weitermachte, bis er zurück in seinen alten Beruf
ging: Pilot von Verkehrsmaschinen.
## Unfehlbarer Gegensatz
Die eigentlich unsingbaren theoretischen Texte von Art & Language werden
durch Thompsons unglaublich konstruktiven, melodisch vielfältigen
Gesangsvortrag stabilisiert. Durch ihre Überblendung mit dem
dekonstruktiven Ravenstine-Fiepen, das immer so klingt, als würde er gerade
live das Universum nach Alien-Sounds absuchen, bildet sich ein spritziger
unfehlbarer Gegensatz. Dazu kommt der charmant angemuffte, anachronistische
Funk-Bass von Ben Annesley, der in den frühen Achtzigern in britischen
Rough-Trade-Kreisen in Mode war und ein seltsames Saxofon, dessen Urheber
ich nicht kenne, vermutlich war es auch Ravenstine (Lora Logic, die das
früher bei Red Krayola erledigte, eher nicht.).
Wie fest darf die Stimme der Eltern klingen (fest ja, aber nie schreien),
was macht die Besonderheiten von Dreijährigen aus und wie unterstützt man
den Idealismus sehr kleiner Kinder? Ich erinnere mich, dass Mayo, der kurze
Zeit später eine Weile mein Nachbar werden sollte, damals gerne den Begriff
der „Monstrosität“ als ästhetischen Wert verwendete; meiner Erinnerung na…
meinte der die Kombination von in sich dichten, massiven, tendenziell
geschlossenen, kulturell beladenen Komplexen (Jackson Pollock) mit anderen,
vorderhand nicht dazu passenden (Geschichte der Sowjetunion) und gerne noch
einen weiteren (zeitgemäßer, flott-verführerischer Pop-Song-cum-Modefunk
und Space-Fiepen).
In dieser Hinsicht ist die Auseinandersetzung mit Spock ein weiterer Dreh
dieser Schraube. Später entstanden andere Kollaborationen, mit anderen
bildenden Künstlern (Albert Oehlen, Stephen Prina) und zahllosen Musikern
(David Grubbs, Mike Hurley), seit einiger Zeit auch bildende Kunst. Im
November eröffnet eine Personale von Mayo Thompson in der Berliner Galerie
Buchholz.
## Vom Osten fasziniert
Dem westlichen, von analytischer Philosophie unterfütterte Marxismus von
Art & Language steht der, dem Sartre’schen Existenzialismus nicht so ferne,
von Osteuropa und seiner Totalitarismusgeschichte faszinierte Pessimismus
von Scott Walker gegenüber. Auf seinen experimentellen Solo-Alben mit
Avantgarde-Adel wie SunnO))) ist auch, aber weniger stark als in seinen
bisherigen Filmmusiken erkennbar gewesen, dass Walker die osteuropäische
Moderne mag wie kein Zweiter. Osteuropäische Diktatoren und Parteiführer
waren ja auch schon mehrfach Themen seiner Songs.
Die „Childhood of a Leader“, die einen Weg von der Freiheit zum
Konformismus nachzeichnet, klingt so wie eine mit weniger musikalischen als
mit vor allem Sound-Ehrgeiz neu gefasste Version von Lutoslawski – in
Deutschland vor allem durch den Missbrauch seines „Konzerts für Orchester“
als Titelmusik des „ZDF-Magazins“ mit seinem besonders galligen und
reaktionären Antikommunismus bekannt.
Komponisten wie Schnittke und Lutoslawski, auch Penderecki bieten Walker
als Vorbilder die Gelegenheit, seine Film-Symphonik vor traditionellen
Backgrounds zu entwickeln, ohne an Hollywood denken zu müssen. Auch
Hollywood selbst hat ja in letzter Zeit erkannt, dass dies der einzige Weg
ist, orchestrale Filmmusik noch mal ins Rennen zu bringen – und als
Überwältigungsstrategie, die mit Darkness und Pessimismus arbeitet, ist das
gar nicht so falsch. Noch ein Tick irrer, überdrehter und faszinierender
sind die damals schon gestandenen Musiker und Künstler, die sich mit dem
glücklichen selbstverwirklichten Dreijährigen beschäftigen.
31 Oct 2016
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
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