Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- US-Sänger David Thomas ist tot: Schreie über Monster, Meere und a…
> David Thomas ist am 23. April im Alter von 71 Jahren gestorben. Für den
> Sänger war die Liebe als Vereinbarung der Blockfreiheit eine typische
> Idee.
Bild: Immer kantabile geblieben: David Thomas (1953-2025)
Linker Kanal hohes elektronisches Fiepen, rechter Kanal ein
Chuck-Berry-Riff. So beginnt „Non-Alignment Pact“ von 1978, die
Vereinbarung zur Blockfreiheit, ein neues Liebesmodell und der erste Song
auf dem Debütalbum von Pere Ubu.
Hiermit ist nun das Geheimnis der Rock- und Pop-Musik, der elektrischen,
recorded music ein für alle Mal ausgeplaudert: Es geht nicht primär um
Songs, Erzählungen, Meinungen, Liebe und Empörungen. Es geht um irre,
fremdartige Geräusche von Maschinen (ein Kanal), die aber kein Mensch
aushalten würde, wenn sie nicht in klare, wahre Akkorde eingebettet wären
(anderer Kanal).
Doch das allein reicht noch nicht, es fehlt ein drittes, die Verbindung,
vor allem dann, wenn man die Bestandteile vorher so aufklärerisch
offengelegt hat [1][(wie später erst wieder The Jesus and Mary Chain)]:
Diese Verbindung stiftet ein unvergleichlicher, nicht einfach technisch
guter, sondern individueller, rührender oder überwältigender, verführender
oder zurückweisender Gesang.
Und der hebt Sekunden nach diesem Intro an. Es singt David Thomas und in
seiner immer nahe am Überschlag, am Kippen ins Jodeln angesiedelten
Hochgestimmtheit, ließ er uns wissen: „I want to make a deal with you,
girl, and get it signed by the head of state.“
## Die großen Idiosynkraten
David Thomas ist am 23. April im Alter von 71 Jahren gestorben. Die Liebe
als eine Vereinbarung der Blockfreiheit ist eine typische Idee für den
US-Künstler. Das Historische, Krieg und Frieden, das Große und das
Schlimmste sind ihm Lieblingsbilder für Liebe und Leben der meist
vereinsamten Einzelnen, der großen Idiosynkraten.
Aber er konnte dabei auch sehr euphorisch sein: In „We’ve Got The
Technology“ ist es heutiges technisches Wissen, das eine Helligkeit auf
Poesie wirft, die die historischen Dichter nicht kannten und deswegen zum
Gang ins Dunkle verdammt waren.
In „Final Solution“ verlangt ein Teenager aus Verzweiflung wegen seiner
Akne nach einer „Endlösung“ (ja, Incels gibt es auch schon länger, und
Rachefantasien hatten in den 1970ern auch eine große Zeit). Doch auch ganz
massive, punkige Deutlichkeit läuft in der Musik von David Thomas bald auf
Auflösungen, Taktwechsel, überraschende Jazz-Mittelteile oder einfach den
begnadeten Synthielärm seines langjährigen Mitstreiters Alan Ravenstine
hinaus. (Ein später in seinen Beruf zurückgekehrter Flugkapitän, der aber
bei Pere Ubu auch einige gute Nachfolger hatte).
Und auch das Girl aus dem „Non-Alignment Pact“ ist keine klassische
Angebetete, sie hat so viele Namen, „wie es Sterne gibt“. David Thomas
zählt sie auf: „Peggy, Carrie-Ann, Bettie Jean, Jill, Jan, Joan, Sue,
Alice, Cindy and Barbara Ann.“
## Zwischen Brian Wilson und dystopischem Dreck
Der letzte Name ist kein Zufall: [2][Als Pere Ubu, aus dem sich seinerzeit
langsam deindustrialisierenden Rust Belt Ohios kommend,] mit ebenso
hart-noisy, simpel rockmäßigen und künstlerisch überbordenden Mitteln 1975
sich erstmals meldeten, verkündete David Thomas, damals noch als Crocus
Behemoth, zur Überraschung seiner sich in dystopischem Dreck ästhetisch
einrichtenden Peer Group, dass er ein großer Fan von Brian Wilson sei, dem
Autor des historischen Beach-Boys-Hits „Barbara Ann“.
## Herz der Finsternis
Titel von berühmten Songs, Dramen, Romanen, Filmen, Musicals beherrschen
die zahllosen Alben von Ubu (ich habe 21, aber mir fehlt etwa die Hälfte)
und der anderen Bands von David Thomas (wie den Woodenbirds, den
Pedestrians, den Pale Boys etc.): „West Side Story“, „Apocalypse Now“,
Heart of Darkness“, „Blue Velvet“, „Down By the River II“, „Mona“…
Boyfriend’s Back“ haben alle [3][nichts mit den gleichnamigen Klassikern
von Joseph Conrad], Leonard Bernstein, Neil Young oder Bo Diddley zu tun –
nur „Surfer Girl“ ist tatsächlich ein Cover von „Surfer Girl“ der Beach
Boys.
Wer das alles nie gehört hat, könnte der Meinung sein, dass man es hier mit
einem großen postmodernen Intertextuellen zu tun hatte, tatsächlich war er
das auch ein wenig, aber David Thomas war auch ein meilenweit als
einzigartige Type erkennbarer, rundum unzitierter und unzitierbarer
Solitär.
Genauso oft wie von seinem Schädel durchpflügenden Bildungsgütern schrie
und seufzte er über Monster, Meere, Abgründe und über Tiere, vor allem
Vögel aller Art. Kreaturen. Er tendierte zur hingebungsvollen
Identifikation mit dem Nichtidentischen, war aber bei aller Poesie auch um
ungerechte Urteile nicht verlegen: „Musicians Are Scum“ oder „Why I Hate
Women“.
## Außerirdische Elektronik
In all den Jahren spielten zahllose bedeutende Musiker_innen bei Pere Ubu,
[4][von dem texanischen Künstler und Intellektuellen Mayo Thompson] bis zu
dem britischen Artrock-Veteran Chris Cutler und natürlich der schon vor dem
ersten Ubu-Album verstorbene, [5][dylanisierende Jugendfreund, Proto-Punk
und Dichter-Junkie Peter „Baudelaire“ Laughner]. Und sosehr Thomas harte,
schnelle Stücke, Rockgitarren und außerirdische Elektronik liebte – es
musste immer wieder auch mal ein Trompeter dabei sein, später wurde dann
daraus die Freundschaft mit dem famosen Andy Diagram von den Diagram
Brothers.
Wer je an norddeutschen Herbstabenden der ausgehenden Regierungszeit von
Helmut Schmidt das Album „Dub Housing“, Seite 1, durchgehört hat, wenn im
Titeltrack jamaikanische Produktionstechnik mit der Trope des Horrorhauses,
nun aber zu verlassenem sozialen Wohnungsbau in Ohio gesteigert, zu etwas
so zugleich Komischen und Erschütternden verschmilzt, das trotz allem
kantabile bleiben will, und dann noch ein Lied folgt, in dem Dr. Caligari's
Kabinett von betrunkenen Seeleuten heimgesucht wird, wird David Thomas nie
vergessen.
Mir sagte er einmal im Gespräch, dass es immer ein sehr spezieller,
seltsamer, unbeschreiblicher Moment war, wenn sein Vater in der Kindheit zu
Hause Opern angehört habe. Diese Atmosphäre lasse sich nicht überbieten und
er wisse genau, wie er sie bei sich auslösen könne, und außerdem, dass
jeder andere Mensch genau dieses Gefühl, diese Stimmung auch kenne, nur
dass sie von etwas ganz anderem ausgelöst würde und sich auf ein anderes
Haus, andere Eltern bezöge. Aufgabe der Kunst sei es, diese Auslöser immer
wieder herbeizuschaffen. Das gelang ihm, tonnenweise.
29 Apr 2025
## LINKS
[1] /Saenger-von-The-Jesus--Mary-Chain/!5998750
[2] /Devo-Abschiedskonzert-in-Berlin/!5952079
[3] /Unveroeffentlichte-Songs-von-Lou-Reed/!5875923
[4] /!235755/
[5] https://chicagoreader.com/music/piecing-together-the-story-of-midwest-punks…
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
## TAGS
Nachruf
Avantgarde
USA
Ohio
Rock'n'Roll
Jazz
Tirana
Scott Walker
## ARTIKEL ZUM THEMA
US-Jazzerin Carla Bley ist tot: Gesellschaftsverändernde Musik
Die Jazzkomponistin und Bandleaderin Carla Bley ist eine wichtige Stimme
der US-Avantgarde. Nun ist die 87-jährige gestorben. Ein Nachruf.
Romandebüt von Mayo Thompson: Enver Harmoni sucht die Statuette
Mayo Thompson, Künstler und Begründer der US-Artschool-Band The Red
Krayola, veröffentlicht einen Provenienz-Kunst-Thriller.
Mayo Thompson und Scott Walker: Fiepen aus dem Kalten Krieg
Schlaue Musik: „Baby and Child Care“ von Mayo Thompsons Band The Red
Krayola und „The Childhood of a Leader“ von Scott Walker.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.