| # taz.de -- Pianist John Tilbury schaut zurück: „Die Stadt lag in Trümmern�… | |
| > John Tilbury über seinen Alltag als Militärmusiker im Köln der Fünfziger, | |
| > über Kaffeepausen mit Karlheinz Stockhausen und den Erfindungsreichtum | |
| > der Beatles. | |
| Bild: Spielt Stockhausen und Beatles: der britische Pianist John Tilbury | |
| taz: John Tilbury, wir kennen Sie als Pianist zwischen Neuer Musik und | |
| improvisierter Musik, als Interpret der New York School und als Vertreter | |
| der britischen Improvisationsszene. Ihre Anfänge liegen aber in Köln. | |
| John Tilbury: Das stimmt, in den Fünfzigern mussten junge Briten 20 Monate | |
| Wehrdienst leisten. Ich wurde nach Köln versetzt zum Orchester der Royal | |
| Air Force. Nachts spielten wir Jazz in einer der vielen illegalen Bars. Oft | |
| schauten unsere Freunde von der Militärpolizei vorbei. Sie tranken ein, | |
| zwei Bier, hörten zu, und gegen 2 Uhr sagten sie dann: Okay, Freunde, | |
| einpacken! Und wir bekamen einen Lift zurück in die Kaserne. Mein Glück | |
| war: Ich sprach gut Deutsch und hatte viel dienstfreie Zeit. Die habe ich | |
| dann mehr mit Kölner Freunden verbracht als mit meinen Air-Force-Kollegen. | |
| Wo traf man sich damals in Köln? | |
| In Köln gab es das British Council. Dort lernte ich Elena kennen. Sie war | |
| wesentlich älter als ich. Wir begannen eine Affäre. Unvergesslich. | |
| Vielleicht die schönste Beziehung, die ich je hatte. 40 Jahre später | |
| tauchte sie plötzlich in meinen Erinnerungen wieder auf. Also bat ich eine | |
| deutsche Freundin, für mich auf die Suche zu gehen. Sie machte Elena, die | |
| nun in Baden-Baden lebte, wieder ausfindig. Und wie es der Zufall wollte, | |
| hatte ich in Baden-Banden kurze Zeit später ein Konzert. Unser Wiedersehen | |
| war sehr bewegend. | |
| Hatten Sie in Köln auch Kontakt zur Musikszene? | |
| Die Stadt lag in Trümmern. Das Einzige, was nicht zerstört war, war der | |
| Dom. Der Rest war ein einziger Schutthaufen. Es gab ein Café: das Campi in | |
| der Hohe Straße. Dort tauchten alle auf, etwa die unglaublich versierten | |
| Jazzmusiker von Kurt Edelhagen. Auch die Komponisten Gottfried Michael | |
| König und Karlheinz Stockhausen kamen in ihren Pausen ins Campi. König | |
| hatte einen Assistenten, Ben, einen Texaner, den ihm der US-Komponist David | |
| Tudor empfohlen hatte. Er nahm mich ein paarmal mit und zeigte mir das | |
| Studio für elektronische Musik. | |
| Mit Folgen, wie wir wissen! | |
| Jahrzehnte später habe ich König für meine Biografie über den Komponisten | |
| Cornelius Cardew interviewt, und er konnte sich an einen jungen englischen | |
| Soldaten in Uniform erinnern, der regelmäßig im Studio vorbeischaute. Das | |
| war ich. | |
| Stockhausen hat 1954 seine berühmten Klavierstücke „V-X“ in der „variab… | |
| Form“ mit intuitiven Tempi und irrationalen Techniken komponiert – das | |
| waren mit die ersten Risse im starren Korsett der seriellen Musik. Haben | |
| Sie davon etwas mitbekommen? | |
| Na klar, Stockhausens Klavierstücke habe ich während meines Studiums 1959 | |
| in Polen in einem Wettbewerb gespielt. Meine Beschäftigung damit blieb | |
| allerdings oberflächlich. Im Campi lernte ich den Kölner Musikkritiker | |
| Heinz-Klaus Metzger kennen und wir haben oft über Stockhausen debattiert. | |
| „VII“ mochte ich sehr gern. „Klavierstück IX“ mit seinen Wiederholunge… | |
| chromatischen Aufgängen war ein neues Level. | |
| Das Frühwerk von Cornelius Cardew wäre ohne Stockhausen undenkbar. Cardew | |
| war von 1957 bis 1961 in Köln bei Stockhausen. Wann sind sie sich begegnet? | |
| Cardew habe ich erst 1959 in England kennengelernt, er war da tatsächlich | |
| noch in Köln. Er erzählte mir von seinen Problemen mit Stockhausen. Cardew | |
| wurde ja in seiner Kölner Zeit von Stockhausen angestellt, um an der | |
| Partitur von „Carré“ – ein Stück für vier Orchester und vier Chöre �… | |
| arbeiten. Für Cardew war es ein Geldjob, aber er hat ihn auch einige Nerven | |
| gekostet. | |
| Wie haben Sie Cardew erlebt? | |
| Er war gutmütig, aber auch scharfsinnig. Auf Partys saß er ruhig in der | |
| Ecke, rollte seine Zigaretten, die Leute erzählten ihm bereitwillig ihre | |
| Lebensgeschichten, auf die er dann oft erschütternd ehrlich reagierte. Er | |
| lies sich lange Haare wachsen und lief barfuß herum. Die Nachbarskinder | |
| liebten ihn, aber die Gastarbeiterfamilie, bei der er zur Untermiete | |
| wohnte, bat ihn daraufhin, auszuziehen, weil er die Nachbarn verschrecken | |
| würde. Cardew, was für ein Verlust! Wir vermissen ihn. Am 7. Mai wäre er 80 | |
| geworden. | |
| Und sein Werk? | |
| Er ist zwar ein toter Komponist, macht aber auf mich einen sehr lebendigen | |
| Eindruck. Eigentlich ist ja das Umgekehrte der Normalfall, die lebenden | |
| Komponisten führen sich auf wie Tote. | |
| Auf Ihrer nun beginnenden Konzertreise werden Sie zum ersten Mal Ihre | |
| Beatles-Bearbeitungen spielen. Wie kam es überhaupt zu dazu? | |
| Im Italien Anfang der Siebziger spielte ich während einer Tour zum | |
| Auflockern stets ihren Song „A Day in the Life“ auf dem Klavier. Das habe | |
| ich dann sporadisch mit anderen Beatles-Songs bis Ende der achtziger Jahre | |
| fortgesetzt. Skizzen und Aufnahmen davon hat Dave Smith, ein befreundeter | |
| Komponist, schließlich bei mir entdeckt. Er hat sie vor Kurzem aufgeführt. | |
| Es sind jetzt etwa 25 Klavierstücke. | |
| Wie bewerten Sie die Musik der Beatles? | |
| Meine Bearbeitungen von damals sind zwar frei, ich bleibe aber dicht an der | |
| musikalischen Sprache der Beatles. Ihre harmonischen Erfindungen sind | |
| beachtlich. Ich habe allergrößten Respekt vor ihren Songs. Ich war in den | |
| Sechzigern Fan der Beatles. Alle waren wir begeistert. Sie brachten den | |
| Umbruch. Die Beatles machten sich auch von den US-Amerikanern unabhängig | |
| und sangen im nordenglischen Akzent. Das Setting ihrer Songs war immer | |
| Nordengland. Und die Texte waren immer aus der Sicht der Arbeiterklasse. | |
| „Eleanor Rigby“. „Fool on the Hill“. Alles seltsame nordenglische | |
| Charaktere. Speziell für die Leute von dort muss das sehr bewegend gewesen | |
| sein, weil Lennon und McCartney über ihre Lebenswirklichkeit sangen. | |
| Viele Künstler suchen nach neuen Formulierungen, mit denen sich die | |
| Begriffe „experimentell“ und „Improvisation“ ablösen lassen. In einem | |
| Vortrag sprechen Sie von Morton Feldmans Kompositionen als „celebration of | |
| contingency“ – Musik als Kunst der Offenheit von Erfahrungen, in der der | |
| Raum an Möglichkeiten mitgelesen wird. | |
| Bei Morton Feldman gibt es Stellen, an denen er einem sehr präzise | |
| vorschreibt, wie eine Note zu spielen ist, doch im selben Stück gibt es | |
| Passagen, in denen er absichtlich alles offenlässt. | |
| AMM haben Ihre Kollegen Keith Rowe und Eddie Prévost 1966 gegründet. Sie | |
| sind seit 1980 Mitglied. Die Regelfreiheit ist Grundregel bei AMM: keine | |
| Absprachen vor oder nach einem Konzert. Wie haben Sie gelernt, mit diesen | |
| Spielräumen umzugehen? | |
| In meiner Anfangszeit bei AMM saß ich oft tonlos auf der Bühne am Klavier | |
| und hielt mich an die alte Regel: Wenn du nichts zu sagen hast, dann sag | |
| auch nichts. Der Improvisation wird gern vorgehalten, man könne ja dann | |
| irgendwas Beliebiges spielen. Ich sage immer: You don’t play anything. You | |
| play something! | |
| „Something“, so heißt auch ein Beatles-Song | |
| Moment, kenne ich den? Ich schaue mal nach in meinen Noten. Interessant, | |
| habe ich gar nicht in meiner Sammlung. | |
| Ein Stück der Spätphase, aus der Feder von George Harrison. | |
| Zu Harrison fällt mir was ein. Wieder so ein Zufall. Kürzlich habe ich | |
| beschlossen nicht mehr außerhalb von Europa zu reisen, es ist mir | |
| körperlich zu anstrengend. Und genau in dem Augenblick kommt eine Einladung | |
| nach Kerala in Südindien. Ich spiele dort im Dezember zehn Tage | |
| hintereinander als Künstler der Kochi-Muziris Biennale. In Indien zu | |
| spielen ist ein Lebenstraum. In der indischen Musikkultur hat alles | |
| angefangen. Ich muss dahin. | |
| 22 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Volker Zander | |
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