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# taz.de -- Jazzsaxofonist Barney Wilen: Interkulturelles Jamming
> Der französische Saxofonist Barney Wilen spielte schon 1959 mit
> Thelonious Monk. Zwei seiner tollen Alben wurden nun
> wiederveröffentlicht.
Bild: Barney Wilen (rechts) 1959 in New York bei den Aufnahmen von „liaisons …
Dies ist eine Geschichte, die von der Rive-Gauche-Avantgarde bis zum
Panafrikanismus reicht, vom Lettrismus zum Mai 68, von der Musique concrète
zum Ethno-Boom, vom Situationismus bis zum Brexit. Man könnte Bücher mit
ihr füllen, Documenta-Budgets für ihre Rekonstruktion ausgeben, hat aber
nur etwas mehr als eine taz-Seite.
Daher, Leute, schlagt all diese Namen nach, die ich jetzt nennen werde,
ohne sie nur zu droppen (fallen zu lassen), hebt sie auf, haltet sie in
Ehren und lest mal ein Buch von Alain Jouffroy und vor allem: Hört Barney
Wilen! Er ist neben Kim Fowley mein zweiter großer Kronzeuge dafür, dass
nur Leute, die vor lauter Neugier bersten und es auch auf die Gefahr des
Opportunismusvorwurfs nicht aushielten, nicht überall dabei sein zu wollen,
die besseren Künstler sind als die, die sich selbst die gähnend öde
sogenannte Treue halten.
Ziemlich genervt ist der junge Pierre Boulez in einem Brief an seinen
ungleichen Freund John Cage in den frühen 1950er Jahren. Auf einer
Diskussionsveranstaltung zur neuen Musik hatte sich aus dem Publikum ein
nicht näher benannter Lettrist gemeldet und eine Linie von der
onomatopoetischen Sound-Poesie der Lettristen zum Bebop und von da aus zu
Cage gezogen. „Bebop, ich hoffe, Sie wissen das, ist dieser neue Jazz-Stil,
[…] der für einen Sturm in Saint-Germain-de-Prés gesorgt hat“ und natürl…
nichts mit ernsthafter Avantgardemusik zu tun habe: „Ich war karmesinrot
vor Wut und schleuderte ihm die schlimmsten Beleidigungen entgegen. […] Mit
einem, der so einen Quatsch erzählt, diskutiert man nicht. Man beleidigt
ihn einfach. Dabei tat ich mir keinen Zwang an.“
## Siegeszug des Bebop
Der Siegeszug des Bebop blieb aber am linken Seineufer so nachhaltig, dass
ein paar Jahre später der ebenso strenge wie melancholische Chef der
Lettrismus-Nachfolgeorganisation, der Situationistischen Internationalen,
Guy Debord, sich in die Musik von Art Blakeys Jazz Messengers verliebte und
in seinen Filmmemoiren dieser Zeit, In girum imus nocte et consumimur igni
(„Nachts gehen wir im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt“), ein
Stück von Blakeys Pariser Album „Au Club Germain“ den folgenden, funkelnden
Edelstein von einem Satz untermalen ließ: „Und doch hinterließ die sinkende
Sonne dieser Stadt hier und da einige Glanzlichter, als wir die letzten
Tage verströmen sahen inmitten einer Kulisse, die bald niedergerissen
werden sollte, und mit Schönheiten beschäftigt waren, die nicht
wiederkommen würden.“
Vor 60 Jahren geriet der 20-jährige, aus Nizza stammende, halbamerikanische
Tenorsaxofonist Barney (Bernard) Wilen in diese Szene zwischen
Sonnenuntergang und Kulturkampf, als er nicht nur sein erstes Album als
Leader einspielt („Tilt“), sondern auch an Miles Davis’ Filmmusik zu Louis
Malles „Fahrstuhl zum Schafott“ beteiligt war.
Das leicht Gebrochene des filmischen Zugangs zum Jazz wurde zu einer
Konstante seiner Karriere. Er kannte besser als jeder Amerikaner, aber
zugleich auf deren musikalischem Niveau, die Stimmung einer Stadt, in der
Jazz für das affektiv aufgeladene Erleben einer untergehenden urbanen
Dichte stand und eine Hoffnung für all diejenigen war, die Avantgarde mit
Aufstand verbanden und die direkte körperliche Wirkung von Jazz hier in der
Tradition von Dada eintragen wollten.
Als kurz darauf der eher sexy-kommerzielle Regisseur und
Brigitte-Bardot-Entdecker Roger Vadim die immer mal wieder verfilmten
„Gefährlichen Liebschaften“ („Liaisons dangereuses“) mit Jeanne Moreau
besetzen wollte – die schon der Star in Louis Malles „Fahrstuhl“ gewesen
war – lag es nahe, auf der Mode des Jazz-Soundtracks zu surfen.
Bindeglied war Barney Wilen, der kinematografische Saxofonist. Zusammen
mit dem Filmmusikproduzenten Marcel Romano flog er nach New York, wo man
den gerade von einer Lebenskrise – Verhaftung wegen Dope und anschließendem
Verlust der Zulassung, in Clubs spielen zu dürfen – gebeutelten Pianisten
Thelonious Monk gewinnen konnte, die Filmmusik einzuspielen. Neben dessen
etatmäßigem Saxofonisten Charlie Rouse hat Barney Wilen einige gestochen
scharfe Soli über die allerdings überwiegend schon oft eingespielten
Klassiker (etwa „Crepuscule With Nellie“) gezeichnet, die allerdings ein im
Studio durchaus pointierter und gut aufgelegter Monk für den Film
ausgewählt hat, der im Vorfeld zu depressiv war, etwas Neues zu schreiben.
## Gefährliche Liebschaften
Kurz darauf wird auch Art Blakey beauftragt, mit seinen Jazz Messengers
einen weiteren Soundtrack für die „Gefährlichen Liebschaften“ aufzunehmen…
Blakey war es immerhin, der Debord zu rühren wusste. Es ist dasselbe New
Yorker Studio und wieder ist Wilen dabei. Dieser Soundtrack wird auch sehr
erfolgreich veröffentlicht. Beide werden im Film teilweise verwendet. Die
Monk-Aufnahmen sind erst jetzt, aufwändig restauriert, veröffentlicht
worden.
Das ist zum Glück auch mit anderen Arbeiten Wilens passiert. Vielleicht der
einzige Jazzer von Rang, der sich weniger auf seine Konstanz, seine Essenz,
seine Persönlichkeit verlässt, sondern ständig dabei ist, wenn neue Moden
das Bewusstsein sprengen, die Musik knacken oder die Weltrevolution bringen
wollen. Und gerade obwohl Wilens eigener Stil als Instrumentalist eher
organisch entlang der Entwicklungslinien der amerikanischen Vorbilder, vor
allem John Coltrane, voranschreitet, ist er inhaltlich-konzeptuell immer
für radikale Kontexte und interessante Rahmenhandlungen zu haben gewesen.
So hört man ihn 1967 bei einer der ersten Weltmusikprojekte, „Jazz Meets
India“, mit indischen Musikern um Dewan Motihar und unter anderem Manfred
Schoof und dem Irene Schweizer Trio, das gerade dabei ist, sich in Guru
Guru zu verwandeln.
Von den Guru-Guru-Leuten (Mani Neumeier und Uli Trepte) angefixt, gründet
Wilen stracks ein eigenes Amazing Free Rock Ensemble und widmet ein
wirklich großartiges Album „Dear Prof. Leary“ – vor allem ein unbekannte…
die Sounds der E-Gitarre als Sounds liebender Mimi Lorenzini und der
deutsche Free-Jazz-Pianist Joachim Kühn, hier verkleidet als
hingebungsvoller Hammondgniedler, sind für ein bizarres Stück Prog-Rock
avant la lettre mit alterpsychedelischen Versionen von Beatles, Ornette
Coleman, Dusty Springfield und Soul-Klassikern verantwortlich. Eine andere,
musikalisch eher lyrische, aber sagenhaft elegante Platte ist das
Astrologie-Konzeptalbum „Zodiac“.
## Sounds der Haarnadelkurve
Gipfel des Wahnsinns aber wird die Musique-concrète-Free-Jazz Fusion „Auto
Jazz – The Tragic Destiny of Lorenzo Bandini“: Wilen nimmt als
Concrète-Spektakel den Soundtrack des Formel- -1-Grand-Prix von Monte-Carlo
mit ziemlich hohem technischen Aufwand auf, mit dem Plan, mit François
Tusques und anderen im Studio dazu zu jammen. Bei diesem Rennen kommt es
aber – wie andauernd in den 60er Jahren – zu einem tödlichen Unfall. Der
Ferrari-Pilot Lorenzo Bandini verbrennt in seinem Auto. Das ist nun für
Wilen aber nicht nur kein Grund, seinen Musique-concrète-Plan aufzugeben,
sondern Anlass, ihn zu einer Schicksalssymphonie in fünf Sätzen
aufzumotzen, zu deren Höhepunkt man auch – ohne sie besonders
identifizieren zu können – die echten Unfallgeräusche hören kann.
Die Komposition ist trotz aller makabren Effekte ein Meilenstein:
Wunderschön branden wohl gesetzte Saxofon-/Keyboard-Melismen gegen die
Sounds der Haarnadelkurve. Erstaunlich immer, wie sehr der Hausproduzent
des deutschen MPS-Labels, bei dem all diese Eskapaden in den 60ern
erscheinen konnten, der Jazzpapst Joachim-Ernst Berendt Wilen immer die
ideologische Stange hielt und atemberaubend ausgedachte Liner Notes
druffsattelte.
Noch wichtiger war allerdings der Pianist, Komponist und Aktivist François
Tusques, der Wilen nicht nur fast immer begleitete, strukturierend und
verstärkend neben ihm saß, ihn zur Teilnahme an seinem eigenen
Freejazz-utopischen Projekt, der Intercommunal Music, einlud – er war bei
allen hier erwähnten Projekten dabei, außer dem letzten, von dem gleich die
Rede sein wird: Tusques tritt im Rahmen von „Ein Traum von Weltmusik“ bald
im HAU auf. Aber von Snuff concrète zu seinem ambitioniertesten Werk. Wilen
verliebt sich in Caroline de Bendern, dem weiblichen Gesicht des Mai 68,
das, als neue Marianne apostrophiert, berühmt auf den Schultern des
legendären Aktionisten Jean-Jacques Lebel eine Demo anführend,
fotografiert wird.
## Das Zanzibar-Kollektiv
Die ist nicht nur Model und Aktivistin, sondern auch Teil des
Filmkollektivs Zanzibar, bei dem spätere Prominente und/oder
Arthouse-Heilige wie Laurent Terzieff, Philippe Garrel oder, Jack Raynal
oder auch der Künstler Olivier Mosset unter der Führung der Debord-lesenden
Milliardärin und Produzentin Sylvina Boissonnas versuchen, linksradikale
Varianten von Warhol-Filmen herzustellen. De Bendern und Mosset verbringen
Zeit in der Factory. Ein anderer Chefintellektueller der Gruppe ist der
marxistische Kunsttheoretiker und Dichter Alain Jouffroy, von dem Roberto
Bolaños „Wilde Detektive“ immer so geschwärmt haben. Obwohl das
Zanzibar-Kollektiv bald nach 1968 in Einzelprojekte zerfällt – Garrel dreht
etwa mit Nico „La Cicatrice intérieure“ –, kommt es zu einem finalen
Großprojekt mit Wilen: einer Reise, die durch Afrika zu dem Ort führen
soll, dem die Gruppe ihren Namen verdankt.
Dort kommen die Reisenden nie an, Kriege und andere Krisen drängen sie eher
nach Westafrika. Sie bleiben zwei Jahre, sammeln Musik und
Musikinstrumente, schließen Freundschaften und lassen sich ganz ohne die
Projektionen anderer Hippie-Reisender der Ethnoboom-Jahre massiv
erschüttern und inspirieren. Von den 15 Mitreisenden sind nach zwei Jahren
noch sechs übrig, andere afrikanische Freunde sind hinzugekommen und reisen
mit. Am Ende entsteht ein Film von Caroline de Bendern, „A L’intention de
Mademoiselle Issoufou à Bilma“, und ein Album, „Moshi“, von Barney Wilen:
eine Reihe von exquisiten Jams und zwei absolut zwingende Songs, die 1972
in Frankreich über in Afrika gefundene Themen aufgenommen wurden, vermischt
mit Originalaufnahmen von der Reise.
„Moshi“ ist jetzt erstmals in voller Länge als Doppelalbum erschienen – …
Film gibt es als DVD dazu. Hier ist wirklich eine andere, so nicht gehörte
Art interkulturellen Jammings hörbar, die bis heute nicht normal ist. Es
überrascht sicher niemanden, dass Wilen nach eher ruhigen 70er Jahren, sich
gegen Ende des Jahrzehnts der Punk-Bewegung anschließt – leider ist dieser
Schritt nicht auf Tonträgern verbürgt. Später kehrt er noch einmal zum
Bebop und zu den Soundtracks zurück. Er stirbt 1996. Die Britin Caroline de
Bendern ist unlängst als Aktivistin gegen den Brexit aufgefallen.
16 Jun 2017
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
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