| # taz.de -- Lou Reed ist tot: Die Stromstöße zurückgegeben | |
| > Biest und Heiliger: Als Frontmann von Velvet Underground und dann solo | |
| > hat Reed wie keiner vor ihm der Rockmusik Krach und Düsternis geschenkt. | |
| Bild: See you on „The Wild Side“. Lou Reed – hier in Spanien, in Santiago… | |
| „Lou 3 an Lou 8 – Hallo!“ So lautete ein Eintrag von Lou Reed in sein | |
| Notizbuch, während er sich auf Geheiß seiner Eltern 1959 einer | |
| Elektroschockbehandlung im Creedmore State Psychiatric Hospital von Long | |
| Island/New York unterziehen musste. Acht Wochen, drei mal wöchentlich | |
| dauerte diese Prozedur. Kein ungewöhnlicher Vorgang für die USA der späten | |
| Fünfziger Jahre, wo die sogenannte „Lobotomie“ Standard war, um mit | |
| „verhaltensauffälligen“ oder „schwererziehbaren“ Kindern und Jugendlic… | |
| fertig zu werden. | |
| Reeds jüdische US-Mittelschichts-Eltern wollten, dass ihr damals | |
| 17-jähriger Sohn von seinen Stimmungsschwankungen kuriert wird. Er sollte | |
| kein Außenseiter in der Vorstadt werden. Sollte seinen homosexuellen | |
| Neigungen absprechen. Wie wir wissen, hat das nicht funktioniert. Seine | |
| größte Leidenschaft galt schon damals dem Rock'n'Roll. „Das bedeutet, Musik | |
| hören, die deine Eltern nicht mögen, sich so anziehen, dass es deinen | |
| Eltern nicht gefällt,“ sagte er später in einem Interview. | |
| Und die Stromstöße, die man Lewis Allan Reed als Jugendlichen ins Gehirn | |
| jagte, gab er später als Lou Reed mit seiner E-Gitarre doppelt und dreifach | |
| wieder zurück. Eine ganze eigene Art, Gitarre zu spielen, mit | |
| tiefergestimmten Saiten und einem spartanischen, aber treffgenauen | |
| Klangbild. Nicht zu vergessen seine sonore Stimme, die von Anfang an sehr | |
| erwachsen und abgeklärt klang und auch in den Abgründen angelte, die andere | |
| ausließen. Den launischen, ja konfrontativen Kurs seiner Jugend hat Reed in | |
| allen Phasen seiner Musikerkarriere beibehalten, sich mit Journalisten | |
| angelegt, gelegentlich sogar mit den Fans. Ein Biest. | |
| Bevor er 1964 tatsächlich im New Yorker Brillbuilding als Songschreiber für | |
| die Plattenfirma Pickwick in Lohn und Brot stand, besuchte er die Uni und | |
| traf auf einen Gleichgesinnten, den Gitarristen Sterling Morrison, mit dem | |
| er später bei Velvet Underground spielen sollte. Auf dem College begann | |
| Reed sich intensiv für die Welt der Literatur zu begeistern, verschlang die | |
| Romane von William S. Burroughs, Krimis von Raymond Chandler und die | |
| Gedichte der Beatpoeten. Er wurde zum Schüler des Dichters Delmore | |
| Schwartz, belegte seinetwegen einen Kurs in Creative Writing. All das trug | |
| später Früchte. | |
| Seine Rock'n'Roll-Leidenschaft lief parallel weiter, Reed spielte schon um | |
| 1962 in Bands. Bob Dylan wurde sein erklärtes Vorbild, nachdem er ihn 1963 | |
| live gesehen hatte. Wie jener machte auch Reed Erfahrungen mit | |
| Rauschmitteln, fuhr regelmäßig nach New York, um Konzerte zu sehen und | |
| Drogen zu kaufen. | |
| ## So eng war Pop und Kunst zuvor nie | |
| Durch seine Arbeit bei Pickwick lernte Reed 1965 den walisischen Musiker | |
| (und Bratschisten) John Cale kennen und dessen Freund, den | |
| Underground-Filmemacher und Musiker Tony Conrad. „Wie ein Bullterrier, der | |
| einen am Hosenbein zieht“, so beschreibt Reeds Biograf Victor Bockris | |
| dieses Aufeinandertreffen sehr unterschiedlicher Charaktere. Zusammen mit | |
| dem bildenden Künstler (und Drummer) Walter De Maria und Tony Conrad | |
| begannen Reed und Cale zunächst als The Primitives Musik zu machen. | |
| Die Lower Eastside-Musikavantgarde im Umfeld des Komponisten La Monte Young | |
| stand den Beteiligten nun näher als die Charts. Na ja, Reed verteidigte den | |
| Rock'n'Roll mit Zähnen und Klauen. Und so gingen Rock und Avantgarde eine | |
| für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts absolut stilbildende Allianz | |
| ein. Nach einigen Umbesetzungen nannte sich die Band 1965 The Velvet | |
| Underground und verfeinerte ihre stürmische künstlerische Zusammenarbeit | |
| nachdem sie von dem Künstler Andy Warhol als Hausband für die Factory | |
| engagiert wurden. So eng war Kunst und Pop davor nie. „Es ging darum, | |
| aufzutreten und die Songs auf der Bühne zu improvisieren“, beschrieb John | |
| Cale die Herangehensweise seiner Band. | |
| Die Velvets waren die erste erwachsene Rockband, schrieb Diedrich | |
| Diedrichsen einmal sinngemäß. Das stimmt: sowohl, was die Themenwahl angeht | |
| – die unverblümte, aber auch simplistische Sprache war einmalig – als auch | |
| die Härte der Musik, die Experimentierfreudigkeit und Genauigkeit. Das | |
| Lebensgefühl, das in ihr zum Ausdruck kam. Die Velvets sollten | |
| einflussreich werden. Lou Reed nahm bei seinem Ausstieg 1969 etwas mit, was | |
| er zeitlebens beibehalten sollte: „Ich wollte kein Hitlieferant für die | |
| Charts sein, da gehöre ich nicht hin.“ | |
| Das änderte sich nicht mal, als er - nun solo - 1972 zusammen mit David | |
| Bowie das Album „Transformer“ aufnehmen sollte, das mit dem Song „Walk on | |
| the Wild Side“ seinen größten Hit abwarf. Auch „Berlin“, im darauffolge… | |
| Jahr veröffentlicht, ein Konzeptalbum über eine dysfunktionale gewalttätige | |
| Familie, inspiriert von Shakespeares „Othello“ und den Romanen des | |
| britischen Schriftstellers Christopher Isherwood, änderte nichts an Lou | |
| Reeds Status als Enfant Terrible des Rock. | |
| Die siebziger und achtziger Jahre brachten mit Punk und New Wave neue | |
| Genres, die Reed schon in den Sechzigern vorgeprägt hatte. Während er von | |
| jungen Musikern zum Säulenheiligen ausgerufen wurde, dümpelte seine eigene | |
| Karriere vor sich hin. Er wechselte mehrmals die Plattenfirma, | |
| veröffentlichte 1982 mit „The Blue Mask“ ein kühles, dem Stile der | |
| Velvet-Alben nachempfundenes Album, blieb für den Mainstream aber weiterhin | |
| Persona Non Grata. | |
| ## Sich selbst in den Klassikerstatus überführt | |
| Das änderte sich erst gegen Ende der achtziger Jahre, als Reed „New York“ | |
| aufnahm, ein weiteres Konzeptalbum, Songs über den desaströsen Zustand | |
| seiner Heimatstadt New York. Allmählich überführte sich der Künstler damit | |
| auch selbst in den Klassikerstatus. Untermauert wurde dies durch die | |
| verdiente Reunion von Velvet Underground in Originalbesetzung und Konzerte | |
| von ihnen in Europa. | |
| Nach der Jahrtausendwende war bei Lou Reed eine dauerhafte Return-to-Form | |
| festzustellen; ersichtlich an dem tollen Album „The Raven“, auf dem er sich | |
| dem Werk von Edgar Allan Poe widmete. Ersichtlich auch an den umjubelten | |
| Konzerten von seiner Re-Enactement-Tour zu „Berlin“, die er 2007 | |
| absolvierte. | |
| Im Mai hatte sich Lou Reed einer Lebertransplantation unterziehen müssen, | |
| am Sonntag ist er an Komplikationen in diesem Zusammenhang gestorben. Er | |
| wurde 71 Jahre alt, aber sein Leben und Werk werden in Erinnerung bleiben. | |
| Seine Songs gehören mit zum Größten, was die Popmusik je hervorgebracht | |
| hat. | |
| 28 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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