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# taz.de -- Fuck Andy. Fuck Nico. Fuck Cale: Ein Leben mit Lou Reed
> Der große New Yorker Sänger, Gitarrist und Mitbegründer der Band Velvet
> Underground lebte stets am Abgrund – und begeisterte eine ganze
> Generation.
Bild: Es gibt ein schlecht gelauntes Leben im lustigen
MÜNCHEN taz | In der amerikanischen TV-Serie „Boardwalk Empire“, einer
etwas hölzernen Kostümorgie über Alkoholschmuggel und Glücksspiel, brüllt
der stets paranoide und schlecht gelaunte Mafiakiller Gyp Rosetti seinen
Begleiter an: „Nichts Persönliches! Was soll das heißen? Wie kann etwas
’nicht persönlich‘ gemeint sein, wo wir doch alle Personen sind?“
Dass Gyp Rosetti von dem kleiderschrankgroßen Bobby Cannavale gespielt
wird, ändert nichts daran, dass er in diesem Moment die Inkarnation eines
eher schmächtigen Giftzwergs aus Brooklyn sein könnte, der aus jüdischem
Elternhaus stammt, Lou Reed heißt und am Sonntagmorgen – wann sonst? – mit
71 Jahren am Leben und dem ganzen Rest verstorben ist.
Journalistenkollegen, die es gewagt haben, den innersten Kreis seines
Zornes zu betreten, werden den Vergleich mit der Mafiabestie verstehen; mir
ist dies Gott sei Dank erspart geblieben, aber wenn man sich ein halbes
Menschenleben lang (Scheiße, mehr!) von der Stimme dieses Kerls auf der
Bühne oder von seinen Platten hat annörgeln lassen, anblaffen, ankotzen,
belehren und beschimpfen, aber auch liebkosen, streicheln, dann ist das
Verhältnis zu Lou Reed doch durchaus persönlich geprägt, hat sich ein Teil
seiner Übellaunigkeit, seiner Sentimentalität, seiner narrativen Kraft und
seines nihilistischen Furors an den eigenen Synapsen angelagert wie alte
Plastiktüten, die der Wind von der städtischen Müllkippe hereingeweht hat
und jetzt an irgendeinem Bauzaun vergammeln.
Wortfetzen. Gesichtsausdrücke. Riffs. Augenblicke. Ein sehr junger Mann,
der ich damals war, sitzt auf dem Rücksitz eines alten Ford, den Kopf nach
hinten, Richtung Westen gedreht, blickt in die untergehende Sonne, auf ein
langes Band rot überfluteter Autobahn. Im Radio läuft „New Age“ von Velvet
Underground – doch, so was lief mal im Radio –, und dass hier eine neue
Zeit heraufdämmert, ist ein Versprechen an den jungen Mann, auch wenn er
viel später feststellen muss, dass gar nicht Lou Reed diese Zeilen singt,
sondern einer seiner von ihm immer wieder eingesetzten Interpreten –
Antony, Little Jimmy Scott, hier: Doug Yule.
Als Lou Reed Velvet Underground 1969 verlässt, geht er auf die 30 zu. Er
hat ein Leben auf der Überholspur hinter sich, Elektroschocks wohlmeinender
Ärzte wegen jugendlicher Aufsässigkeit, eine Zeit als Lohnschreiber für
Musikverlage, ein wenig Tanzmucke, dann eine wüste Phase der Kollaboration
mit dem walisischen Querkopf John Cale in der Band Velvet Underground,
solipsistisches Heroin und Amphetamine statt des weltumarmenden LSD sind
die Drogen der Wahlverwandten, die in Andy Warhols Factory
aneinandergeraten – alles, um dem silbernen Meister Warhol zu gefallen.
Aber nicht lange! Nicht mit Lou! Fuck Andy. Fuck Nico. Fuck Cale.
## Stille und Höllenlärm sind eins
Dann ein großer Rock-’n’-Roll-Moment: die Band im Studio; es ist noch ein
wenig Zeit, und es gilt: Jeder so laut er kann. Alle Anzeigen im roten
Bereich: Gitarre gegen Bratsche gegen Gitarre.
Es ist wieder Abend, wieder Sonnenuntergang, wieder sitzt unser junger Mann
im Auto, diesmal einem alten Käfer. Velvet Undergrounds Song „Sister Ray“
ballert aus den billigen 8-Watt-Boxen, 17 Minuten Splatterfeedback. Da
hüpft wie in Zeitlupe ein Hinterreifen links am Wagen vorbei und kommt auf
dem Mittelstreifen der Autobahn zum Liegen. Die Hinterachse kreischt über
den Asphalt. Funken fliegen. Apocalypse now. In einer Mischung aus Schock
und Cool zieht der junge Mann das Auto auf die Standspur, stellt die
Zündung ab. Der Kassettenrekorder plärrt weiter. Stille und Höllenlärm sind
eins. Noch mal davongekommen. Nothing personal.
Lou ist jetzt solo. Lou ist jetzt im Orbit seines Verehrers David Bowie.
Transatlantisches Feedback. Lou ist jetzt in Berlin. Lou ist jetzt fast ein
Star.
Viele Jahre später, unser junger Mann sitzt in einer Maschine in die USA.
Im Bordheft sind die Audiokanäle aufgelistet; eine Kategorie heißt: One Hit
Wonder. Mit dabei „Walk On the Wild Side“ von Lou Reed. Denn nach dem Hit
auf dem Album „Transformer“ (1972) bringt er ein Doppelalbum mit
Rückkopplungsgedröhn heraus, das sehr richtig „Metal Machine Music“ heißt
und eigentlich nur darauf verweist, dass tief im Kern der Popmusik, im
„Rock ’n’ Roll Heart“ also, ausschließlich ein schrilles Störgeräusc…
Versteht damals natürlich keiner. Hätte man vielleicht auch nicht auf 68
Minuten darlegen müssen. Hätte die Welt vielleicht auch nach 68 Sekunden
verstanden.
Egal. Karriere vorbei, bevor sie so richtig begann. Lou lässt sich die
Haare kurz scheren, trägt ein Hundehalsband, prügelt sich mit GIs in
hessischen Sporthallen und nimmt Doppel-Live-Alben in Kunstkopfstereofonie
auf, auf denen er in epischer Länge Juden, Schwarze, Frauen und seine Band
beleidigt. Nichts Persönliches, natürlich. Der junge Mann lernt in jener
Zeit von ihm, dass man Nouvelle-Vague-Filme, Ballett und Oper blöd finden
darf. Es gibt ein schlecht gelauntes Leben im lustigen, obwohl sich immer
ein Robbie Williams finden wird, der zwischen zwei Depressionen singt: „Let
Me Entertain You.“ Aber nicht Lou. Nicht mit ihm. Nicht mit mir.
## Elder Statesman des Punk
Der britische Produzent und Musiker Brian Eno hat recht, wenn er sagt, dass
jeder der 30.000 Käufer des Velvet-Debütalbums losgezogen ist und eine
eigene Band gegründet hat. Die achtziger Jahre sind Lous Jahrzehnt. Er hat
sie schon 1968 durchlebt, doch jetzt sind wir anderen und der Kalender auch
so weit. Der nicht mehr ganz so junge Mann sitzt im Kino. Neben ihm zwei
junge Typen: „Du, ich hab eine wahnsinnige Platte gefunden, Velvet
Underground. Mein Vater hat die irgendwie. Kennst du die?“
Der nicht mehr ganz so junge Mann zuckt zusammen. Nothing personal,
natürlich. Aber, Kinder, wie die Zeit vergeht. Lou ist jetzt der Elder
Statesman des Punk, der Turmschreiber der einzigen Stadt auf diesem
gottlosen Erdboden, die er gelten lassen kann; New York ist sich sein
größtes Gedicht. Und er schreibt die Musik dazu. Es entstehen ein paar
Alben von klassischer Eleganz. Auf einem steht: „Nichts geht über zwei
Gitarren, Bass und Schlagzeug.“
Wenn er diesen Satz zu Ende gelesen hat, muss der junge Mann in mittlerem
Alter zugeben, dass Rockmusik nun klassische Statur angenommen hat. Das sie
streng riecht und ein Bäuchlein bekommt. Dass ihr irgendwann auch ein Lou
Reed nicht mehr recht in den Sattel helfen kann. Boom Boing Tschak. Lou
wandelt sich, achtet mehr auf die Gesundheit, macht Sport und Tai Chi, hat
also Angst, lebt mit Laurie Anderson zusammen, kann also doch lieben, und
unterstützt Bürgerrechtsbewegungen und Anti-Atom-Organisationen.
## Selbst Unsterbliche müssen sterben
Nichts mehr von wegen „Give me an issue and then give me a tissue to wipe
my ass with“ oder so ähnlich. Das Rock-’n’-Roll-Tier reift, wird sogar
überreif. Wird Dichter. Bastelt selbst an der großen Erzählung namens
Amerika mit herum. Wird gern gesehener Gast von Staatsmännern. Wird
vielleicht sogar Unicef-Botschafter. Das dann doch nicht.
Er streicht um das Werk eines Edgar Allan Poe herum – der Freejazzer
Ornette Coleman bläst das Saxofon, Steve Buscemi, der Hauptdarsteller von
der eingangs erwähnten TV-Serie „Boardwalk Empire“, rezitiert Texte – und
er lässt die Metalband Metallica auf sein letztes Album, „Lulu“ (2011),
los, palim palim, und gerade als er auch noch aussieht wie Didi
Hallervorden, kommt der Tod um die Ecke und sagt: „Dich muss ich wohl vor
40 Jahren vergessen haben, sorry, Lou.“
Und der Mann, der dies schreibt, trauert mit jeder Faser seines nicht mehr
jungen Körpers, weil selbst Unsterbliche sterben müssen, was dann doch sehr
persönlich ist, und weil die Welt mit dem Fehlen eines Herzschlags ein
ärmerer Ort geworden ist, an dem der dialektische Dämon fehlt, der aus
Feuer und Blut und Schwefelgestank einen Menschen erschaffen konnte. Oder:
etwas Menschliches. Etwas mit Persönlichkeit.
28 Oct 2013
## AUTOREN
Karl Bruckmaier
## TAGS
Punk
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