# taz.de -- Musikerin Laurie Anderson in Berlin: Halt mich, Mama | |
> Laurie Anderson ist die Frau mit der elektrischen Geige und dem Vocoder. | |
> Auf der Transmediale erzählt sie von Donald Trump und John F. Kennedy. | |
Bild: Laurie Anderson spielte zum Abschluss der Transmediale in Berlin | |
Fliegen die Pollen schon wieder? Oder ist es Laurie Anderson, die mich zum | |
Weinen bringt? Im Haus der Kulturen der Welt musste ich mir Tränen aus den | |
Augenwinkeln wischen. Auf dem Nachhauseweg lief es in Strömen die Wangen | |
herunter. Die Ursache wird sich nicht klären lassen. Aber Laurie Andersons | |
Show zum Abschluss der Transmediale in Berlin, die am Samstag und am | |
Sonntag ausverkauft war, gab Anlass zum Weinen. Besonders in jenem Moment, | |
als eine tiefe Männerstimme aus dem Nichts eine kurze Melodie zu summen und | |
Anderson dazu zu spielen begann. | |
Die Stimme summte ein bisschen weiter, und ein Funke des Erkennens begann | |
zu glimmen, die kannte man doch? Dann fing der Mann an, ein trauriges, | |
schönes Lied zu singen, und dieser Mann war Lou Reed. Laurie Andersons | |
Mann, der 2013 gestorben ist. Was für eine schöne Hommage. | |
Laurie Anderson ist Musikerin und Medienkünstlerin, aber auch Medium. Sie | |
nahm an zwei Documentas teil und überzeugte auf der legendären Nova | |
Convention die alten Beatniks mit ihrer unschlagbaren Mischung aus | |
technologischer Kreativität und erzählerischer Raffinesse. So konnte man | |
Anderson, sofern man in den Siebzigern nicht in New York unterwegs war, zum | |
ersten Mal auf einem Doppelalbum hören, das sie mit John Giorno und William | |
S. Burroughs während einer Spoken Word Tour aufgenommen hatte: „You’re the | |
Guy I Want to Share My Money With.“ | |
Andersons Soloalbumdebüt „Big Science“ erschien 1982. Die daraus | |
ausgekoppelte Single, das auf dem Album über acht Minuten lange „O | |
Superman“, ist längst ein Klassiker minimalistischer elektronischer | |
Popmusik, der Platz zwei der britischen Charts erreichte. Anlass für das | |
Stück war die Iran-Contra-Affäre, aber es ging um mehr: „So hold me, Mom, | |
in your long arms / In your automatic arms / Your electronic arms / Your | |
petrochemical arms / Your military arms.“ | |
## Der Apotheker hilft | |
Interessanterweise ist es hier eine Übermutter, die als „Voice of | |
Authority“ durch das Medium Laurie Anderson spricht, deren Markenzeichen | |
der im Mund befindliche Vocoder ist, durch den ihre Stimme tiefer und | |
elektronisch verzerrt klingt. Diese finstere „Stimme der Autorität“ | |
benannte sie später auf Vorschlag Lou Reeds in Fenway Bergamot um. | |
Kann man sich einen Mann vorstellen, der einen Lautsprecher in den Mund | |
nimmt? Heute nicht mehr. Radikale männliche Rocker haben sich während | |
Liveshows hin und wieder Mikrofone in den Mund gesteckt, sich selbst | |
penetriert in einem Akt der Überschreitung und Negation der phallischen | |
Virilität der Rock-’n’-Roll-Performance. Stimmig, dass Anderson ihre | |
transformative Sprechtechnik als „Audio Drag“ bezeichnet hat. | |
Anderson steckt sich Lautsprecher in den Mund, aber auch Lichtquellen. Und | |
eine der vielen Anekdoten, die sie in Berlin über sich selbst und das | |
Geschichtenerzählen als solches zum Besten gibt, handelt davon, wie | |
Batterieflüssigkeit aus einem dieser Apparate austrat und ihn am Gaumen | |
festklebte, sodass sie eine Apotheke aufsuchen musste, um sich von einem | |
stoischen Apotheker befreien zu lassen, der schon viele Gegenstände aus | |
Körperöffnungen extrahiert haben muss, sagt sie. | |
Im Hintergrund laufen Diashows und Animationen. Anderson spielt E-Violine | |
und Keyboard und erzählt und erzählt mit ihrer hypnotischen Stimme. Die | |
ersten Worte, die auf dem Schirm hinter ihr erscheinen, lauten: „Some say | |
your empire is passing as all empires do.“ Bemerkenswert optimistisch, ist | |
das doch zuerst ein Abend der Trauer, der vom Untergang einer Welt, vom | |
Aufwachen in einem Albtraum handelt: „I don’t recognize my home anymore“, | |
sagt Anderson. Ihr Zuhause, ihr Land sei nun in der Hand von Psychopathen. | |
Später berichtet sie davon, wie sie fürs Studierendenparlament kandidierte | |
und John F. Kennedy, der sich auf Wahlkampftour befand, per Brief um Tipps | |
bat. Kennedy antwortete: „Verbringe viel Zeit mit deinen Kommilitonen, | |
finde heraus, was sie wollen, und versprich es ihnen.“ | |
## Erzählen ist Vergessen | |
Die vielleicht verrückteste Geschichte des Abends stammt vom alten Griechen | |
Aristophanes, „Die Vögel“ betitelt. Darin rät ein Philosoph dem König der | |
Vögel, „die Luft und den Raum zwischen Himmel und Erde mit Mauern aus | |
Ziegeln zu umgürten, wie Babylon einst mit Mauern wurde versehen“. Wenn die | |
Menschen Rauchopfer an die Götter schickten, oder die Götter herab kommen | |
wollten, um sich mit Menschen zu vergnügen, müssten sie fortan an der | |
Mautstation der Vögel vorbei. Die Geschichte des Aristophanes hat wohl noch | |
keiner mit Donald Trumps Mauerplänen in Verbindung gebracht. | |
Die traurigste Geschichte des Abends handelt von der kleinen Laurie, die | |
vom Sprungturm springend den Pool verfehlt, sich den Rücken bricht und | |
Wochen auf einer Station für verbrannte Kinder verbringt. Manche dieser | |
Kinder waren plötzlich am Morgen verschwunden, und die Krankenschwestern | |
setzten alles daran, sie schnell vergessen zu machen. Und so sei es ihr | |
selbst mit ihrer Geschichte vom Krankenhaus ergangen, sagt Anderson. Sie | |
habe sie so lange erzählt, bis sie die gestorbenen Kinder ganz vergessen | |
hatte. Das ist die Quintessenz des Erzählens: Eine Geschichte erhält Rahmen | |
und Inhalt durch das, was im Erzählen vergessen gemacht wird. | |
Anderson ist eine der wichtigsten Vertreterinnen einer radikalen | |
elektronischen Avantgarde. Umso merkwürdiger, dass keine jungen Hipster da | |
sind. Gekommen ist eine In-Crowd der anderen Art. Die Leute sind vierzig | |
und älter, viele Frauen mit kurzen Haaren darunter. Das Eigentümliche | |
unserer, das Archiv fetischisierender, tendenziell todespornografischer | |
Zeit ist, dass sterbende und tote Männer des Pop mit Inbrunst verehrt | |
werden, aber keiner von den Checkern hingeht, wenn eine große lebende Frau | |
ein Konzert gibt. | |
Irgendwann, zu Hause, versiegten dann die Tränen. | |
6 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
## TAGS | |
elektronische Musik | |
Transmediale | |
Künstlerin | |
elektronische Musik | |
Kendrick Lamar | |
Avantgarde | |
Stephin Merritt | |
Centre Pompidou | |
Dokumentarfilm | |
Andy Warhol | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Laurie Anderson in der Elbphilharmonie: Heitere Avantgardistin | |
US-Künstlerin Laurie Anderson bespielt für einige Tage die Hamburger | |
Elbphilharmonie. Zum Auftakt gab es tibetische Lieder – ohne viel Exotik. | |
Vocoder als Musikmaschine: The Sound of Andersartigkeit | |
Heute verzückt der Vocoder Menschen auf dem Dancefloor. Erfunden wurde er | |
zur Verbesserung der Telekommunikation. | |
Neues Album von Kendrick Lamar: Spiritueller Sprachakrobat | |
Und mit den Bässen kommt der Bewusstseinsstrom: Kendrick Lamars neues Album | |
„Damn“ hat einen irren Flow, wenige Längen – und Bono Vox. | |
Musikalische Avantgarde: Der Tetrachord von Wasserstoff | |
Die Minimalmusic-Komponistin und Computerpionierin Catherine Christer | |
Hennix erkundet Mathematik und psychoaktive Dimensionen. | |
Neues Album von The Magnetic Fields: Lebenszwischenfazit in Songs | |
Stephin Merritt hat seine Band wieder aktiviert. Er spendiert der Welt mit | |
„50 Song Memoir“ ein fabelhaftes Konzeptalbum. | |
Beat Generation im Centre Pompidou: Techniken des Rausches | |
Jack Kerouac, Allen Ginsberg und andere Hipster: Eine Schau im Pariser | |
Centre Pompidou zeigt die Vorgeschichte von Underground und Punk. | |
Hinreißender Film von Laurie Anderson: Von der Verletzlichkeit der Lebewesen | |
Laurie Andersons Filmessay „Heart of a Dog“ ist eine visuell-akustische | |
Komposition. In ihr vergegenwärtigt sie die Toten, die sie liebt. | |
Fuck Andy. Fuck Nico. Fuck Cale: Ein Leben mit Lou Reed | |
Der große New Yorker Sänger, Gitarrist und Mitbegründer der Band Velvet | |
Underground lebte stets am Abgrund – und begeisterte eine ganze Generation. |