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# taz.de -- Vocoder als Musikmaschine: The Sound of Andersartigkeit
> Heute verzückt der Vocoder Menschen auf dem Dancefloor. Erfunden wurde er
> zur Verbesserung der Telekommunikation.
Bild: Der Vocoder zerlegt die Stimme in ihre Einzelteile – und hat damit die …
Wenn die Welt am Rand eines Atomkriegs steht, braucht es klare Anweisungen,
vorzugsweise über eine abhörsichere und störungsfreie Telefonleitung. Am
25. Oktober 1962 drückte US-Präsident John F. Kennedy auf den Knopf und
sprach in den Vocoder. Während seine Stimme von der Maschine verarbeitet
wurde, stand er unter starken Medikamenten. Seine Stimme, die für
sowjetische Abhörspezialisten unverständlich sein sollte, klang eher wie
eine Disney-Ente, die zur See fährt.
Am anderen Ende der Leitung saß der britische Premier Harold MacMillan und
musste längere Pausen in Kauf nehmen. In der Transkription tauchte das Wort
„Verstümmelung“ auf. Während der Kubakrise durfte es keine
Missverständnisse geben.
In einer Zeit, in der unsere Zukunft in den Grapscher-Händen eines
Präsidenten liegt, der von allen guten Geistern verlassen ist, kommt einem
zwangsläufig dieser dubiose Moment in der Geschichte der
Roboter-Telekommunikation in den Sinn. „World destruct / Help me people“,
sang schon Stevie Wonder in seinem Song „Race Bubbling“.
Der Physiker Homer Dudley hat den Vocoder in den Bell Telephone
Laboratories in New York in den späten 1920er Jahren entwickelt. Das
elektronische Gerät zerlegte die menschliche Stimme, setzte sie neu
zusammen, filterte sie, leitete sie um oder konnte Sprachfrequenzen
mitunter völlig unterdrücken. Dudley hatte eigentlich vor, US-Haushalte mit
Vocodern auszustatten, um mit der dadurch verringerten Bandbreite Kosten
für Ferngespräche zu senken. Prototypen seines Vocoders waren raumfüllende
Kisten. Aus seiner Vision der Datenkomprimierung sind inzwischen
mikroskopisch kleine Partikel in Handys geworden.
## Auf dem Dancefloor wurde der Vocoder groß
Wenn man sich Frank Oceans Sample von Stevie Wonders Coverversion des
[1][Songs „Close to You“], das er durch die Talkbox gejagt hat, anhört, am
besten via YouTube auf dem Handy, entfaltet sich der komplette Metaeffekt:
Der Vocoder bringt Maschinen zum Sprechen. Die Ingenieure des Bell Labor
setzten alles daran, den Vocoder so menschlich wie irgend möglich klingen
zu lassen, aber seinen leicht blechernen Klang konnten sie nicht
wegprogrammieren. Allerdings stellte sich dieses technische Problem bald
als Segen heraus: Nur mit dem Vocoder konnten viele verdammt gute
Dance-Alben entstehen.
Zwar hatte der Vocoder im Bereich der Fernsprechtechnik wegen seiner
Unverständlichkeit kläglich versagt, auf dem Dancefloor trug er jedoch zur
Kommunikation bei: Die vermeintlich entmenschlichte Stimme brachte die
Tänzer*innen zum Ausflippen und damit näher zueinander. Eine Frau – Lynn
Goldsmith – konnte mit dem Vocoder zum männlichen Gesundheitsguru Will
Powers werden. Ein Mann – Michael Jonzun von der Jonzun Crew – konnte einen
Krieg gegen Pac-Man-Maschinen anzetteln. In einem Werbespot für Parfum
jaulte der Vocoder wie eine Katze. Das Gerät brachte den Jazzpianisten
[2][Herbie Hancock] sogar dazu, zu denken, er könne singen.
Ursprünglich wurde der Vocoder entwickelt, um durch die Komprimierung von
Daten die Tonqualität beim Telefonieren zu verbessern. Im Zweiten Weltkrieg
wurde der Vocoder für militärische Zwecke eingesetzt, zum Austausch
geheimer Informationen. Das Gerät, das die Sprache entmenschlichte, wurde
kriegsentscheidend.
Die Pläne bezüglich des Abwurfs der Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima
wurden zwischen dem Pentagon und einer Vocoder-Station auf der [3][aktuell
bedrohten Insel Guam] übermittelt. Der britische Dechiffrierungsspezialist
[4][Alan Turing] war der einzige, dem es erlaubt war, den Vocoder aus dem
Bell Labor auf Herz und Nieren zu überprüfen. Nach 1945 wurde Turing in die
britisch besetzte Zone Westdeutschlands geschickt, um verschlüsselte
Signale zu untersuchen, die in Hannover abgefangen worden waren. Außerdem
wurde seine Expertise bei der Befragung deutscher Ingenieure genutzt, die
im Nazi-Waffenlabor Burg Feuerstein in Bayern an der Entwicklung von
Vocodern gearbeitet hatten. Der berühmteste ehemalige Feuerstein-Ingenieur
war übrigens der spätere Kopfhörer-Hersteller Fritz Sennheiser. Sein
Vocoder hielt in den Siebzigern mit „Kampfstar Galactica“ Einzug in
Hollywood und wurde später auch von Neil Young für [5][sein Album „Trans“]
eingesetzt, als seine Stimme wacklig wurde.
## Titelthema Dr. Who
Die meisten Menschen kamen vermutlich erstmals 1971 durch Stanley Kubricks
Spielfilm „Clockwork Orange“ mit einem Vocoder in Berührung, ohne es zu
realisieren: Sie waren zu sehr von der Brutalität des Films abgelenkt, um
Wendy Carlos’ Vocoder-Vergeistigung von Beethoven im Soundtrack
wahrzunehmen. Zur selben Zeit war ein „abhörsicherer“ Vocoder von Bell Labs
an den US-Flächenbombardements in Vietnam beteiligt. In der
zentralvietnamesischen Provinz Hue überlebte die ethnische Minderheit der
Pako den Krieg. Sie hatte ihre eigene Talkbox aus Bambus erfunden und für
Liebeslieder ihre Stimmen modifiziert, lange bevor [6][Roger Troutman von
der Vocoder-Funkband Zapp] auf die gleiche Idee kam.
Mitte der Siebziger stattete der Synthesizer-Hersteller EMS den
„Radiophonic Workshop“ der BBC mit einem Test-Vocoder aus. Er kam im
Titelthema der Science-Fiction-Serie „Doctor Who“ zum Einsatz. Ab Ende der
Siebziger waren billigere Geräte erhältlich und wurden von
Disco-Produzenten wie Giorgio Moroder und HipHop-DJs eingesetzt. Sie
erreichten ein größeres Publikum als etwa der schwule Elektro-Produzent Man
Parrish, als er von der Decke des Studio 54 auf die Bühne schwebte und
„Boogie Down Bronx“ performte, bei dem ein Korg Vocoder zum Einsatz kam.
Obwohl der Vocoder oft als Instrument von KünstlerInnen der sexuell
vielfältigen New Yorker Musikszene benutzt wurde, war seine Klangsignatur
maskulin. In den ersten Patentanmeldungen war nicht vorgesehen, dass der
sogenannte Frequenz-Diskriminator höhere Stimmlagen erkennen sollte –
damals wurden hohe Stimmen ausschließlich als weiblich wahrgenommen.
Präsident Eisenhower hielt seine Frau Maime für einen älteren Mann, als sie
ihren Gatten mit einem über die verschlüsselte Telefonleitung des Pentagon
übermittelten Geburtstagsgruß überraschen wollte. Dennoch spielten Frauen
des Women’s Army Corp (WAC) während des Zweiten Weltkriegs eine wichtige
Rolle: Sie transkribierten Geheimgespräche, in denen ihre „Vorgesetzten“
wichtige Entscheidungen trafen. „Who is this, really?“, fragte Laurie
Anderson in ihrem Vocoder-Hit [7][„O Superman“], in dem sie die
Machenschaften während eines Kriegs hinterfragt. Die Stimme kommt von einem
Anrufbeantworter.
## Gehört, aber oft missverstanden
Susanne Ciani, Pionierin der modularen Synthese, wendete sich an den
deutschen Synthesizer-Ingenieur Harald Bode, um mit ihm einen Filter zu
entwickeln, der die höheren Frequenzen ihrer Stimme erkennen konnte. „Ich
brauchte eine Modifizierung. Etwas weniger Metallisches und Maskulines.
Weil man die gehauchten Anteile einer Stimme über den Vocoder nicht hören
kann – was üblicherweise die sehr hohe weibliche Stimmlage betrifft –,
haben wir ein Verbindungsstück entwickelt, das meinen Atem zusammen mit dem
Klang transportiert.“
Ciani nutzte den Vocoder, um ihren Arbeiten für TV-Werbespots und ihrem
Album „Seven Waves“ unterschiedliche Lagen und Klangsignaturen zu
verleihen. Kaum wahrnehmbare Klänge und „stimmlose Sounds“ mit subversivem
Effekt. TV-Talkmaster David Letterman stellte sie der US-Öffentlichkeit als
„berühmte Sprachverzerrerin“ vor.
Oft gehört, aber auch missverstanden, hat der Vocoder viele Formen
angenommen: Als Hilfsmittel für Taubstumme, als Garant für sichere
Telefonverbindungen, als wichtiger Bestandteil im Gedächtnis des Funk.
„Dear dead days beyond recall“ lautet der Text im „Love’s Old Sweet Son…
der vor dem Zweiten Weltkrieg durch einen Vocoder aus den Bell Labors
gesungen wurde. Er klang weder männlich noch weiblich – seine
Andersartigkeit verarbeitete sich über verschiedene Kanäle und Frequenzen.
Suzanne Ciani spricht davon, dass sie den Vocoder im Sinne einer Kartierung
gebraucht, in dem sie akustische Signale filtert und diese dann
übereinanderlegt. So könnte man auch die sich überschneidenden Geschichten
hören und nachverfolgen, wenn sogenannte stimmlose Sounds zu Sounds der
Stimmlosen werden. Wie der R&B-Produzent Teddy Riley es formulierte: „Du
musst unbequem werden, wenn du den Vocoder benutzt. Wirklich unbequem.“
Aus dem Englischen von Sylvia Prahl
25 Aug 2017
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=wTmsPJHpv2c
[2] https://www.youtube.com/watch?v=pIoCSkjz8aA
[3] /!5433870/
[4] /!5023023/
[5] https://www.youtube.com/watch?v=scngKkB5G4A
[6] https://www.youtube.com/watch?v=_aVa7qVKUHI
[7] https://www.youtube.com/watch?v=8gkC0Y14xZ4
## AUTOREN
Dave Tompkins
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