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# taz.de -- Musikalische Avantgarde: Der Tetrachord von Wasserstoff
> Die Minimalmusic-Komponistin und Computerpionierin Catherine Christer
> Hennix erkundet Mathematik und psychoaktive Dimensionen.
Bild: Sie weiß, wie das Universum klingt: Catherine Christer Hennix
Catherine Christer Hennix steht im Halbdunkel am Eingang des früheren
Krematoriums im Berliner Bezirk Wedding. Sie zündet sich ihr langes dünnes
Pfeifchen an und inhaliert tief. Christer Hennix trägt ein rotes Kleid, ein
rotes Kopftuch, unter dem sie mit großen, fast mädchenhaften Augen die
Umwelt wahrnimmt. Dann winkt sie mir mit ihrer rot behandschuhten Hand zu
und spricht in einem Singsang, der nuschelnd entrückt klingt und klar,
monoton und melodisch zugleich.
„Menschen nehmen Klang zu leicht. Er lenkt sie nur ab. So wie sie mal ganz
nebenher einen Drink zu sich nehmen. Wer zu viel Alkohol trinkt, spürt
seinen starken Effekt. Und mit Klang verhält sich das genauso. Er führt zu
starken Reaktionen. Meiner Meinung nach ist das eine bessere Reaktion, aber
sie verändert unseren Körper. Klang hat einen psychotropen Effekt. Er
öffnet ein neues Fenster im Wahrnehmungssystem.“
Drinnen, im Silent Green Kulturquartier, in der früheren Trauerhalle,
laufen noch die Proben zu ihren Auftritten im Rahmen des Berliner Festivals
Maerzmusik. Vehement erörtert Christer Hennix die exakte Justierung der
Verstärker mit dem Tontechniker. Denn sie ist eine Perfektionistin.
Hennix, Jahrgang 1948, ist zu gleichen Teilen Wissenschaftlerin wie
Künstlerin, ihre Musik baut auf mathematischen Prinzipien auf, versucht
sich an einem musikalischen Äquivalent der einheitlichen Feldtheorie, die
alle Elemente und Kräfte zusammendenkt. Aber sie öffnet sich auch weit ins
Spirituelle. Als Tochter einer Jazzkomponistin in Stockholm spielte sie
schon als Jugendliche mit Musikern wie dem afroamerikanischen Saxofonisten
Albert Ayler – und entdeckte beim Unterricht an Schlagzeug und Keyboard als
20-Jährige den Computer als Instrument.
In der Männerdomäne des Electronic Musik Studio der schwedischen Hauptstadt
mit seinen für die 1960er außergewöhnlichen Großrechnern war sie als Frau
zwar in der Minderheit – „aber ich wurde akzeptiert, sie dachten, ich bin
genauso verrückt wie sie, also war es okay“.
Auslöser dieser Experimente war auch ihr Faible für die reine Stimmung –
ein Tonsystem, das nicht mit den vertrauten 12 Tonhöhenklassen arbeitet,
sondern mit unendlich vielen kleinen Abstufungen, mit Mikrotönen, mit den
natürlichen Harmonien von Klängen. Das ist auch eine musikalische
Weltreise: Während sich die europäische wohltemperierte Klavierstimmung
entwickelte, blieben afrikanische, zentralasiatische und indische
Musiktraditionen wie Raga, Maqam und der pentatonische Blues der reinen
Stimmung verbunden. Musik aus islamischen Kontexten gehörte zu Hennix’
Studien und ist heute einer ihrer wichtigsten Einflüsse.
Das liegt auch an ihrem ersten Lehrer, dem US-Trompeter und Black Muslim
Idrees Sulieman, der in den 60er Jahren bei ihrer Familie lebte. Er machte
sie mit zahlreichen New Yorker Jazzgrößen bekannt, die Stockholm damals
besuchten. Schließlich, sagt sie, sei Jazz nichts anderes als der über den
Maghreb nach Westafrika, von dort über den Atlantik verschiffte und nach
New York gewanderte Blues Ostafrikas.
Und der Computer sei die beste Hilfe beim Erzeugen reiner Klänge in
Ragatradition. „Die gleichstufige Stimmung ist eher Wischiwaschi – weil man
nie exakt stimmen kann. Wenn Musiker die gleiche Tonhöhe treffen, dann doch
oft auf einer unterschiedlichen Frequenz. Solche Musik wackelt voran, aber
sie hat kein Zentrum. Reine Stimmung hat ein tonales Zentrum, aber man kann
sich darum herum bewegen. Das gibt größere Freiheit, Klang zu machen. Aber
dennoch muss man exakt arbeiten. Darum hat mir der Computer geholfen, die
reine Stimmung wiederzubeleben. Man tippt nur Nummern ein, und heraus kommt
Sound.“
## Die Struktur der natürlichen Highs
Parallel dazu und teilweise zusammen mit dem Komponisten La Monte Young
erkundete die schwedische Künstlerin diese Harmonien und entwickelte
schließlich mit dem amerikanischen Philosophen und Musiker Henry Flynt eine
neue Kunstform – HESE, das Hallucinogetic/Exstatic Sound Environment. „Die
‚natürlichen Highs‘, die der Hörer empfindet, verlangen nach einer neuen,
logisch-mathematischen Struktur“, informiert der Einführungstext von 1979.
Auch wenn der gesellschaftspolitische Habitus jener Zeit heute nicht mehr
nachvollziehbar für Hennix wirkt, ihr Sound ist bis heute ein äußerst
psychoaktiver. „Ich habe alle musikalischen Assoziationen aus meiner Arbeit
eliminiert, damit man sie als reinen Sound erfahren kann“, erklärt sie.
„Man verliert die Erwartung. In diesem Geisteszustand öffnet sich der
Klang. Das Bewusstsein ändert sein Gesicht. Man wird sich anderer Dinge
bewusst. Eine Melodie ist nach fünf Minuten zu Ende, das Rauschen nie. Es
ist immer da, man kann es immer aufsuchen und immer wieder zurückkommen.
Und das bewusste Wiederkehren zu diesen Stücken erst lässt den Geist dort
eintreten. Das ist keine Erfahrung, die man beim ersten Mal macht, dann ist
es eher verwirrend.“
Ihr Grundklang ist der Tetrachord von Wasserstoff. Wie jedes Element
besitzt Wasserstoff ein spezifisches Schwingen von Proton und Elektron, das
harmonisch ist. Da Wasserstoff das häufigste Element des Universums ist,
ist jenes Schwingen das Grundrauschen aller Welten. „Wasserstoff ist auch
das erste Element, das sich gebildet hat. Diese Klänge gibt es seit 13,8
Milliarden Jahren. Ohne Unterbrechung. Es ist der einzige Tetrachord, den
wir im Universum kennen.“ In Hennix’ Studio stoppt die Sinuskurve dieses
Klangs nie, sie ist Basis ihrer Kompositionen.
## Grundschwingen
Auch bei ihrer Klang-Licht-Video-Installation „Kalam-i-Nur“ im Silent Green
wird der Tetrachord das Grundschwingen sein, über den Hennix und ihr
Ensemble The Chora(s)an Time-Court Mirage spontan performen. In diesen über
Stunden angelegten Sessions wird konkret eine künstlerische und eine
rezeptive Praxis gesucht für eine Formulierung, die das diesjährige
Maerzmusik-Festival zum Motto einer Konferenz macht: „Decolonizing Time“,
das Entkolonisieren der Zeit, das Ausbrechen aus der westlich geprägten
Hegemonie der Linearität. Hennix’ Musik verzichtet zwar auf das in
europäischer Musiktradition typische Metrum, den Taktschlag, nicht aber auf
einen Puls, der bildet nach wie vor Ausgangspunkt für ihr Experiment.
Das gilt auch für ihre Arbeit „The Electric Harpsichord“ von 1976, die erst
2010 offiziell veröffentlicht wurde und am 16. März in neuer Fassung live
realisiert wird. Hier beginnen sich im Rauschen tatsächlich bald neue
Fenster der Wahrnehmung zu öffnen – die Klangwellen treten ein und aus dem
Bewusstsein, lassen schweben, sind vertraut und kaum greifbar.
„Es geht um einen Zustand des luziden Traums. Das ist etwas, was zwischen
mir und dem Rest der Realität steht. Man sieht diese Realität, aber
interagiert mit etwas völlig anderem. Man kann dieses Bild nicht steuern,
denn es hat ein Eigenleben, wie der Rest der Welt um uns. Es kommt direkt
aus dem Geist, aber erscheint nur sehr selten: Innere Ruhe.“ Dass das dann
doch nicht so ganz unpolitisch ist, muss Christer Hennix aber lächelnd
zugeben: „Na ja, du kannst nicht in einem Nine-to-Five-Job arbeiten, wenn
du meine Musik hörst.“
15 Mar 2017
## AUTOREN
Steffen Greiner
## TAGS
Avantgarde
Klassische Musik
Architektur
New Orleans
MaerzMusik-Festival
elektronische Musik
Kreuzberg
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