| # taz.de -- US-Jazzmusikerin Helen Gillet: Schwül, schmutzig und laut | |
| > Zwischen Raga und Pop, Klassik und Delta-Blues: Die in New Orleans | |
| > ansässige Helen Gillet interpretiert das Cello als | |
| > Improvisationsinstrument neu. | |
| Bild: Helen Gillet mit ihrem Cello | |
| Das Gespräch zwischen New Orleans und Berlin verzögert sich: Helen Gillet | |
| hat ein Reisepassproblem. Kein tragisches, aber eines, dem sie jetzt doch | |
| nachgehen muss, bevor wir sprechen. Dass Gillet tatsächlich einmal | |
| Schwierigkeiten bekommen könnte, wenn sie USA verlässt – eine absurde | |
| Vorstellung. | |
| Die Jazz-Cellistin hat eine perfekte Vagabundenbiografie: Geboren in | |
| Belgien, aufgewachsen dort und in Singapur, schließlich in Chicago. Nachdem | |
| sie in Südostasien das Cello lernte – der Legende nach begann ihr | |
| Unterricht mit wochenlangen Umarmungen des Instruments, noch ehe sie die | |
| erste Note spielen durfte –, war es während ihres Studiums des klassischen | |
| Cellos in Benoit, Wisconsin, dass sie über eine Lehrerin, die klassische | |
| indische Musik gemeistert hatte, das Improvisieren kennenlernte. | |
| „Zum ersten Mal sagte mir jemand, ich sollte meine Ohren benutzen beim | |
| Spielen – ich war sofort süchtig. Ich hörte nicht mehr auf, über mein Geh�… | |
| zu spielen, wollte mir immer mehr Musikstile so erschließen und landete | |
| schließlich beim Jazz.“ | |
| Selbstredend zog sie bald in die Jazzkapitale New Orleans, in der die Stile | |
| fließend ineinander übergehen und Platz für alle ist: „Da ich zum Jazz | |
| sowieso über den Avantgarde-Zugang kam, vor allem wegen der Kombination | |
| meiner klassischen Ausbildung mit dem indischen Cello-Spiel, war ich | |
| schnell im Lager der unheimlich seltsamen Vögel. Und sie haben mich immer | |
| willkommen geheißen, die Freaks der Impro-Szene!“ | |
| ## Zwischen allen Spielweisen | |
| Helen Gillets Spiel ist recht ungewöhnlich: Während sich europäische Jazzer | |
| oft entscheiden zwischen klassischer Spielweise, Pop und Avantgarde, bleibt | |
| sie einfach in der Mitte sitzen. Das klingt weit weniger kantig, als man es | |
| sich manchmal wünschen würde, aber oft genug doch so weit weg von den | |
| Klängen, die man vom Jazz-Cello gewöhnt ist, dass man aufmerksam wird. | |
| Nicht nur dass Gillet zwischen den französischsprachigen Chansons ihrer | |
| Jugend, PJ Harvey und Sun Ra alles interpretiert, was ihr über den Weg | |
| läuft, charakteristisch ist vor allem ihr Einsatz des Loopgeräts. | |
| Das entdeckte sie vor gut zehn Jahren als Hilfsmittel zum Komponieren und | |
| integrierte es mehr und mehr in ihre Liveshows. „Ich arbeite mit Live-Loops | |
| – wenn ich einen Fehler mache, muss ich damit arbeiten, das ist der | |
| improvisierte Part. Ich nutze keine voreingestellten Beats. Wenn ich | |
| offbeat bin, hört man es – wie eine alte Standuhr in einem schiefen Flur.“ | |
| Im Grunde improvisiert Gillet dann mit sich selbst, schafft sich den | |
| Resonanzraum ihrer Cello-Improvisation. Anders als die Gamba-Spielerin | |
| Celine Schott, die unter ihrem Alias Colleen auf ihren beim US-Label Thrill | |
| Jockey erscheinenden Alben mit Streichinstrument und Loop minimalistische | |
| Drones schafft, geht Gillet eher in die Lautstärke, ihre Stücke bleiben | |
| dabei immer nahe an melodischen Songstrukturen. | |
| Oft klingt ihre Musik dann wie die des Geigers Owen Pallett alias Final | |
| Fantasy, dessen erste Alben ebenfalls mit Loopmaschine entstanden, ehe er, | |
| als anerkannter Arrangeur für Acts wie Arcade Fire, Grizzly Bear und Robbie | |
| Williams, üppiger produzierte. Da überrascht es kaum, dass beide, Pallett | |
| wie Gillet, als Musiker auch in den Credits der neuen Arcade-Fire-Single | |
| „Everything Now“ auftauchen – jenes Quasi-Abba-Rip-off, von dem noch | |
| niemand genau sagen kann, ob man es einmal hassen oder ewig lieben wird. | |
| ## Düsterer Ton | |
| Gillets eigene Musik wandert aber in eine andere Richtung: Mehr und mehr | |
| bemerkt sie einen düsteren Ton in ihrer Musik, die US-Künstlerin erkundet | |
| bei ihren Live-Improvisationen verstärkt Noise-Klänge und elektronische | |
| Störfeuer. Das liege am Komplex „Trump“, sagt sie, an der veränderten | |
| Energie, die alle seit dem letzten Jahr spüren. | |
| Dabei war New Orleans, die Stadt, die schon unter dem stupiden Falken | |
| George Bush Jr. zum Symbol einer kaputten US-Politik und einer nie | |
| desegregierten amerikanischen Gesellschaft wurde, schon länger den freien | |
| bis düsteren Klangstrukturen genauso zugeneigt wie dem prallen Leben des | |
| Jazz und der anderen Bayou-Stile: „Die Impro-Szene ist lebendiger, größer | |
| und jünger geworden nach dem Wirbelsturm ‚Katrina‘. Die Attitüde von Punk | |
| und das freie, chaotische Spiel werden immer interessanter für die Musiker | |
| um mich herum: Du kannst spielen, was du willst, solange du es so meinst.“ | |
| Andererseits drückt sich in der neuen Spielweise auch einfach aus, dass | |
| Gillet sich schon mit elf Jahren „ein bisschen als Goth“ verstand – und | |
| nicht zuletzt ihre Erfahrung als Musikerin in der Stadt am | |
| Mississippi-Delta, die durch Kneipen tingelt: „Ich klinge ganz anders als | |
| ein Impro-Cellist aus Chicago oder aus Seattle. Ich klinge wie eine | |
| Musikerin aus New Orleans. Das bedeutet eine gewisse Grobheit, es ist nicht | |
| nur schwül, sondern auch schmutzig hier. Das Leben spielt draußen, es ist | |
| laut – als Cellospielerin musste ich lernen, durch diese Lautstärke | |
| durchzudringen, die Menschen auf mich aufmerksam zu machen. Da braucht man | |
| Stärke und Kraft, und das liebe ich heute.“ | |
| In den nächsten Tagen wird sie diese Kraft qua Cello-Layers, Stimme und | |
| Lautstärke gleich mehrmals auf Berliner Bühnen bringen: als kleines | |
| Highlight ein gemeinsamer Gig mit der belgischen Vibrafonistin Els | |
| Vandeweyer. „Ich bin wirklich gespannt auf Berlin. Und diesmal muss ich | |
| auch nicht bei Els auf dem Sofa schlafen – ich habe mein eigenes Bett: bei | |
| der Bassistin der Punk-Band, in der ich Schlagzeug spielte, als ich zwanzig | |
| war!“ Jetzt, wo das mit dem Pass geklärt ist, steht dem weiteren | |
| Vagabundieren über Kontinente und durch Stile also wirklich nichts mehr im | |
| Wege. | |
| 14 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Steffen Greiner | |
| ## TAGS | |
| New Orleans | |
| Jazz | |
| London | |
| Musikfest Berlin | |
| Glamrock | |
| Trikont | |
| Avantgarde | |
| David Toop | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neues Album von Sons of Kemet: Die neue Aristokratie des Jazz | |
| Spielfreude in Klangkaskaden: Saxofonist Shabaka Hutchings und seine Band | |
| Sons of Kemet blicken auf ihrem Album positiv in die Zukunft. | |
| Orchester-Spektakel beim Musikfest: Klangkunst, räumlich gedacht | |
| Ein Auftragswerk von Rebecca Saunders, eigene Werke des Dirigenten Harrison | |
| Birtwistle: Ein toller, fordernder Abend beim Musikfest. | |
| Album und Konzert der Sparks: Lob der Missionarsstellung | |
| Nun erscheint mit „Hippopotamus“ ein neues Album der Sparks. Ron und | |
| Russell Mael reklamieren wieder ihre Ausnahmeposition als Pop-Exzentriker. | |
| Neues Album von Grizzly Bear: Funktionierendes Chaos | |
| Eine Band als gelingende Demokratie: Das Quartett Grizzly Bear lässt | |
| „Painted Ruins“ weltumarmend und leichtfüßig klingen. | |
| Brass Band aus München: Weiter hinausschwimmen | |
| Der anarchische Sound eines freundlichen Kollektivs: Die 25-köpfige Express | |
| Brass Band aus München und ihr Album „Pluto kein Planet“. | |
| Musikalische Avantgarde: Der Tetrachord von Wasserstoff | |
| Die Minimalmusic-Komponistin und Computerpionierin Catherine Christer | |
| Hennix erkundet Mathematik und psychoaktive Dimensionen. | |
| David Toop über lebendige Musik: „Da lief Bach, ich wurde sauer“ | |
| Der britische Musiker und Autor David Toop über die Wiederkehr der | |
| Improvisation und den Kampf um Spontaneität – sowohl in Texten als auch in | |
| der Musik. |