# taz.de -- Orchester-Spektakel beim Musikfest: Klangkunst, räumlich gedacht | |
> Ein Auftragswerk von Rebecca Saunders, eigene Werke des Dirigenten | |
> Harrison Birtwistle: Ein toller, fordernder Abend beim Musikfest. | |
Bild: Lichtfiguren: Das Ensemble Musikfabrik | |
Woher nur nimmt die Sängerin diesen ersten Ton? Es dauert immerhin eine | |
ganze Weile, bis er kommt. Die Uraufführung von Rebecca Saunders’ Stück | |
„Yes“, das als Auftragswerk der Berliner Festspiele entstand, beginnt mit | |
Stille. | |
Die MusikerInnen des Ensembles Musikfabrik und die Sopranistin Donatienne | |
Michel-Dansac betreten unzeremoniös die Bühne, ganz so, als sei gar kein | |
Publikum da. Dann verharren sie regungslos an ihren Plätzen, dabei | |
gleichzeitig in sich gekehrt und hoch konzentriert wirkend, als erwarteten | |
sie innerlich die Ankunft eines göttlichen Funkens. | |
Und auf einmal irgendwann aus diesem konzentrierten Nichts dieser Ton! Er | |
ist der erste Baustein eines großen musikalischen Gebäudes, das an diesem | |
Abend entstehen wird. Oder sollte man sagen: eines klanglichen Gebäudes? | |
Denn wenn Musik etwas ist, das durch die Parameter Melodik, Harmonik und | |
Rhythmik definiert wird, dann hat Rebecca Saunders mit „Yes“ den | |
endgültigen Versuch unternommen, aus ebendiesen Zuschreibungen | |
auszubrechen. Saunders baut Dinge mit Klängen. „Eine räumliche Performance�… | |
hat sie „Yes“ im Untertitel genannt. | |
## Molly Bloom aus „Ulysses“ | |
„Yes“ ist eines der am häufigsten verwendeten Wörter im Monolog der Molly | |
Bloom aus James Joyce’ „Ulysses“. Es changiert in seiner performativen | |
Bedeutung – Linguisten würden „Sprechakte“ sagen –, enthält aber fast… | |
eine erotische Komponente. Saunders schreibt im Programmheft dazu: „Diese | |
zutiefst erotischen Momente, mit ihren romantischen bis ernüchternd | |
grotesken Facetten, werden im Text in unterschiedlichen Schattierungen | |
abgebildet, verlaufen ineinander und überlagern sich.“ | |
Damit liefert sie den Schlüssel zum Verständnis ihres großen Klanggebildes | |
vorab frei Haus, denn wenn die Komponistin hier vom Text spricht, meint sie | |
gleichzeitig auch die Musik. Das Einanderüberlagern der Töne geschieht | |
dabei auf verschiedene Weise. Saunders arbeitet konzentriert am einzelnen | |
Ton und dabei mit der Klangqualität unterschiedlicher Instrumente, lässt | |
Töne der einen von anderen aufnehmen, in ihnen aufgehen, sodass die | |
eigentliche Quelle der Klangerzeugung hinter dem Klang selbst verschwindet. | |
Ein Ton kann somit gleichsam eine eigene, konkrete Präsenz gewinnen, als | |
sei er eben schon immer da und als seien die ihn erzeugenden Instrumente | |
nur seine austauschbare Hülle. Auch die Sopranstimme in „Yes“ verwendet | |
Saunders häufig in diesem Kontext, macht kenntlich und hörbar, dass der | |
biologisch gewachsene Stimmapparat eben auch ein Instrument ist wie die | |
anderen. | |
Zur tonqualitativen Überlagerung kommt die räumliche. Der Kammermusiksaal | |
der Philharmonie mit seinen zahlreichen Balkonen und Tribünen ist perfekt | |
geeignet zur Aufführung von räumlich gedachter Klangkunst wie dieser. Eine | |
Art Kernmusik ist vorne, unten auf dem Podium beheimatet. | |
## Ein großer, pulsierender Organismus | |
Die erstaunliche Sopranistin Donatienne Michel-Dansac agiert meist hier, | |
ferner Enno Poppe als Dirigent, der Akkordeonist bei seinem großen Solo und | |
wechselnde Instrumentengruppen. Als „Module“, wie Saunders es nennt, | |
agieren in lockerer Aufstellung andere Instrumentengruppen irgendwo im | |
Raum. Mitunter stellt sich dabei wirklich das Gefühl ein, inmitten eines | |
großen, pulsierenden Organismus zu sitzen. | |
Einen recht großen Kontrast zu Saunders’ Klangbauwerk bildet die zweite | |
Hälfte des Abends. Kompositionen des britischen Komponisten Harrison | |
Birtwistle stehen auf dem Programm. Birtwistle (Jahrgang 1934) dirigiert | |
einen Teil davon selbst. Ganz ohne Dirigent allerdings kommt sein Stück | |
„Cortege“ aus, das den Untertitel „A ceremony for 14 musicians“ trägt … | |
2007 als Hommage an den verstorbenen Musikerkollegen Michael Vyner | |
entstand. | |
Hier können die MusikerInnen des Ensembles Musikfabrik ihre solistischen | |
Qualitäten zeigen. Scheinbar spielerisch, wie selbstorganisiert, tritt ein | |
Instrument nach dem anderen nach vorn und spielt seinen Part, während die | |
große Trommel den Puls der Zeremonie angibt. | |
Den Abschluss des Konzertabends schließlich bilden zwei Zyklen | |
gleichzeitig. Harrison Birtwistle selbst hatte darum gebeten, wie | |
Musikfestchef Winrich Hopp einleitend erklärt, seine „26 Orpheus Elegies“ | |
verschränkt mit den „Lachrimae“ des Renaissance-Komponisten John Dowland | |
aufzuführen, die Birtwistle für neun Instrumente neu arrangiert hat. | |
An sich eine schöne Idee, denn die „Orpheus Elegies“, virtuose atonale | |
Miniaturen für Harfe, Oboe und Countertenor, sind viel Arbeit fürs Ohr. In | |
den Dowland-Stücken, die Birtwistle so filigran instrumentiert hat, dass | |
sie tatsächlich klingen, als kämen sie gerade durch die Jahrhunderte | |
herübergeweht, kann der Organismus wieder entspannen. | |
Da dieser Konzertabend aber dann insgesamt fast dreieinhalb Stunden dauert, | |
spielen die Zuhörer ausgiebig Abschiedssinfonie. Immer mehr Menschen | |
verlassen den Saal. Am Schluss hat vielleicht noch die Hälfte des | |
Anfangspublikums ausgeharrt – und feiert mit dem Applaus zum Teil | |
sicherlich auch sich selbst. | |
15 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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