| # taz.de -- taz-Serie Neu-Berlinern: Der besondere Sound von Berlin | |
| > Noah Bendix-Balgley ist Amerikaner und seit drei Jahren 1. Konzertmeister | |
| > der Berliner Philharmoniker. Ein Treffen zum Auftakt der | |
| > „Neu-Berlinern“-Serie. | |
| Bild: Noah Bendix-Balgley in der Philharmonie | |
| 1993 hat Noah Bendix-Balgley vor Yehudi Menuhin in der Schweiz gespielt. | |
| Beide spielten sie Geige, seit sie vier waren. Der kleine Junge Noah damit | |
| schon gut die Hälfte seines Lebens, er war damals neun Jahre alt. Der alte | |
| Mann Menuhin bereits über 70 Jahre, er war 77. Menuhin fand es spannend, | |
| dass Noah nicht nur klassische Musik spielte, sondern auch Klezmer und | |
| Musik, die der junge Geiger aus North Carolina selbst komponiert hatte. | |
| Über seine Begegnung mit dem 1999 gestorbenen Menuhin, einem der größten | |
| Violinvirtuosen des 20. Jahrhunderts, erzählt mir Noah Bendix-Balgley | |
| draußen vor Schlomo’s in Prenzlauer Berg. Der hinter ihm stehende lila | |
| blühende Flieder passt gut zu seinem hellblauem Hemd. | |
| Noah Bendix-Balgley wohnt in Prenzlauer Berg. Im Herbst 2014 hat er eine | |
| der drei Stellen als 1. Konzertmeister bei den Berliner Philharmonikern | |
| angetreten und ist nach Berlin gezogen. Der 1. Konzertmeister ist der | |
| Stimmführer der Gruppe der ersten Violinen, der ganz nah am Dirigenten | |
| sitzt und den Ton angibt. Er ist sozusagen das Bindeglied zwischen Dirigent | |
| und Orchester. | |
| So was wissen natürlich alle Deutschen, weil sie, wie Bendix-Balgley später | |
| im Gespräch erwähnen wird, „klassische Musik in ihrer DNA haben“. Aber ei… | |
| Dänin muss nachfragen, um sicher zu sein. Ich spüre eine Art Ehrfurcht. | |
| Kurz nach meiner Ankunft in Berlin vor 13 Jahren war ich für Beethovens | |
| Violinkonzert das erste Mal in der Philharmonie. Die Solistin war die | |
| georgische Geigerin Lisa Batiashvili. Sie war wunderbar. Am besten aber | |
| erinnere ich mich noch an das Gefühl, als das Orchester reinkam, und ich | |
| gedacht habe: Hier kommen die besten Musiker der Welt. Ich kriege immer | |
| noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. | |
| ## Die alte Italienerin | |
| Noah Bendix-Balgley und ich treffen uns erst zur Fotosession in der | |
| Philharmonie, für den Weg nach Prenzlauer Berg nehmen wir die U-Bahn. Er | |
| hat seine Geige auf den Knien. Die Geigentasche ist groß, schwarz, | |
| gepolstert und trägt ein Schild mit seinem Namen. Ich frage ihn, was für | |
| eine Geige es sei. „Nur eine alte Italienerin“, sagt er bescheiden. Ich | |
| stelle mir sie als die Mona Lisa der Geigen vor. Ich sage, er solle sie mit | |
| Handschellen an sich gekettet tragen, wie den Atomkoffer. „Ah, ich habe | |
| immer ein Auge auf sie“, sagt er und lächelt. | |
| Als wir schließlich bei einem vietnamesischen Eiskaffee sitzen, die | |
| Geigentasche liegt zwischen uns, erzählt Bendix-Balgley, dass er als | |
| 26-Jähriger, nachdem er sein Meisterklassendiplom in München bekommen | |
| hatte, seine erste Stelle als 1. Konzertmeister beim Pittsburgh Symphony | |
| Orchestra in Pennsylvania antreten konnte. Nur drei Jahre war er da, dann | |
| ging es schon nach Berlin. | |
| „Den Job in Pittsburgh habe ich richtig gemocht. Es ist ein großartiges | |
| Orchester und eine tolle Stadt“, sagt Bendix-Balgley, und dass er auch | |
| hätte bleiben können. Er fand es aber etwas früh, sich bereits bis zur | |
| Rente festzulegen. | |
| „Als Musiker hat man Ambitionen, man schaut immer nach der nächsten | |
| Herausforderung. Dann gab es ein Kammermusikfestival in den Staaten, und | |
| ein Geiger von den Berliner Philharmonikern hat mir erzählt, dass es eine | |
| Stelle in seinem Orchester geben würde. Zu den Berliner Philharmonikern | |
| habe ich immer aufgeblickt. Ich hörte ihre Aufnahmen schon als Kind. The | |
| sound, the style.Die Berliner Philharmoniker haben eine gewisse Art, sich | |
| der Musik anzunähern“, schwärmt er. | |
| ## Bilderbuch als Vorbild | |
| Der Musik nahe war er selbst schon immer. Sein Vater, dessen Familie in den | |
| dreißiger Jahren aus Deutschland in die USA geflohen ist, ist Tänzer und | |
| Spezialist für Volkstänze aus dem Balkan, Griechenland und auch für | |
| jüdische Tänze. „Es wurde bei uns immer gespielt und getanzt, und als ich | |
| vier Jahre alt war, soll ich insistiert haben, mit der Geige anzufangen. | |
| Mein Lieblingsbuch war übrigens das Bilderbuch ‚The Philharmonic Gets | |
| Dressed‘“, lächelt er. | |
| Seit drei Jahren zieht er nun selbst in Berlin fast jeden Abend Frack und | |
| weiße Binde an, über seine 128 Kollegen sagt er: „Eigentlich ist es eine | |
| große Versammlung von Kammermusikern. Niemand lehnt sich zurück und wartet | |
| auf die Leistung der anderen. Die Berliner Philharmoniker versuchen in | |
| jedem Konzert einen Moment zu haben, bei dem etwas Besonderes passiert, bei | |
| dem das Publikum auf der Stuhlkante sitzt. Jeder übernimmt individuelle | |
| Verantwortung, alle tragen zur Kreativität bei.“ | |
| Sein Verhältnis zu Deutschland hat auch mit seiner Herkunft zu tun. Sein | |
| Urgroßvater Samuel Lewenthal war gleichfalls Geiger, der Ende des 19. | |
| Jahrhunderts nach Leipzig kam, wo er bei Johannes Brahms spielte und 1899 | |
| am Konservatorium seinen Abschluss machte. Noah Bendix-Balgley war immer | |
| klar, dass es für ihn wichtig wäre, ebenfalls in Deutschland zu studieren. | |
| Wegen der vielen deutschen und österreichischen Komponisten, aber auch | |
| wegen seines Urgroßvaters. | |
| „Hier kommt man auf andere Art und Weise in Kontakt mit der Tradition. Ich | |
| hatte wirklich Lust auf Deutschland“, sagt er. München, wo er einige Zeit | |
| studierte, hat er ins Herz geschlossen, aber Berlin ist für ihn die Nummer | |
| eins. | |
| „München ist schön, es war toll, da zu studieren, aber in München finden | |
| sie einen Weg, die Sachen zu machen – und dann wird es so gemacht. Berlin | |
| ist kosmopolitisch, hier werden die Grenzen des Machbaren immer | |
| überschritten. Ich liebe den Umstand, dass Berlin eine so internationale | |
| Stadt ist“, sagt er. | |
| ## Treffpunkt Berlin | |
| Und er liebt an der Stadt das Grün, die vielen kulturellen Angebote, obwohl | |
| er nicht immer die Zeit findet, alles zu erkunden, er findet Berlin | |
| aufregend: „Ich treffe hier viele Kollegen von überall aus der Welt. | |
| Musiker, die vor gar nicht so vielen Jahren nach New York, Boston, London | |
| oder Wien gegangen wären, sie sind jetzt hier, selbst wenn sie keinen | |
| festen Job haben. Sie wollen in Berlin sein.“ | |
| In seiner freien Zeit spielt Noah Bendix-Balgley gern Klezmer. „Ich habe | |
| immer auch selbst komponiert. Mit Pausen, um meine Technik zu | |
| perfektionieren. Aber das ist das Wunderbare, wenn man professionell Musik | |
| auf dieser Ebene macht: Es gibt immer neue Wege, neue Annäherungen und | |
| Möglichkeiten für die eigene Entwicklung. Weil wir im Orchester so viele | |
| sind, hat man auch Gelegenheit, etwas nebenbei zu machen, und dann kommt | |
| man zurück und bringt neue Impulse fürs Orchester mit“, sagt er. | |
| Noah Bendix-Balgley spielt nicht nur deutsche Musik, er spricht auch gerne | |
| die deutsche Sprache. „Das finde ich schon wichtig, wenn man in einem | |
| anderen Land lebt: Dass man wenigstens den Versuch macht, die Sprache zu | |
| lernen.“ | |
| Überhaupt bekommt man kein böses Wort etwa über die Berliner Eigenheiten | |
| aus dem 1. Konzertmeister raus. Diplomatisch sagt er bloß, dass er, wenn er | |
| zurück in seiner Heimat sei, es „sehr genießt“, wenn Angestellte in den | |
| Restaurants und in den Läden überaus höflich sind. | |
| Über die deutsche Vergangenheit sagt er nur: „Die jüdische Familie meines | |
| Vaters kam aus Berlin und ist 1938 nach Palästina geflohen und danach in | |
| die USA. Ich will die Analogie nicht übertreiben, die Situation ist nicht | |
| vergleichbar, aber am 9. November im vergangenen Jahr, nach der Wahl von | |
| Donald Trump, habe ich gedacht, dass ich Glück habe, hier zu sein.“ | |
| Ein paar Tage nach unserem Gespräch sitze ich in der Philharmonie. | |
| Anne-Sophie Mutter spielt zur Feier ihrer 40 Jahre künstlerischer | |
| Partnerschaft mit den Philharmonikern ein Jubiläumskonzert. Tschaikowskys | |
| Violinkonzert in D-Dur, dirigiert von Riccardo Muti. Noah Bendix-Balgley | |
| sitzt zu ihrer rechten Seite. Die Geigerin wechselt immer den Blick | |
| zwischen Muti und Bendix-Balgley. Wenn sie zu ihrem jungen Kollegen schaut, | |
| spielt manchmal ein Lächeln in ihren Augen. Sie sieht aus, als ob sie | |
| denkt, dass auch Berlin Glück gehabt hat. | |
| 11 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Henriette Harris | |
| ## TAGS | |
| Berliner Philharmoniker | |
| Klassische Musik | |
| Neu-Berlinern | |
| Krankenhäuser | |
| Musikfest Berlin | |
| taz.gazete | |
| Expats | |
| Berliner Philharmoniker | |
| Prenzlauer Berg | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| taz-Serie Neu-Berlinern: Die tanzende Ärztin | |
| Nicht nur Künstler zieht's an die Spree: Die niederländische Gynäkologin | |
| Emilie Herzog berichtet, was sie nach Berlin verschlug. | |
| Orchester-Spektakel beim Musikfest: Klangkunst, räumlich gedacht | |
| Ein Auftragswerk von Rebecca Saunders, eigene Werke des Dirigenten Harrison | |
| Birtwistle: Ein toller, fordernder Abend beim Musikfest. | |
| Letzte Saison von Dirigent Simon Rattle: Ein Beginn, nicht das Ende | |
| Nach 16 Jahren verlässt Simon Rattle die Berliner Philharmoniker. Am | |
| Freitag beginnt seine letzte Saison: mit Haydns Schöpfung. Eine Hommage. | |
| taz-Serie Neu-Berlinern: Modenschau oder was? | |
| Bei Stilfragen kann in Berlin nachgebessert werden, meint Sofie | |
| Tarp-Hauser. Ein Treffen von zwei Däninnen im zweiten Teil der | |
| „Neu-Berlinern“-Serie. | |
| Nachfolger von Simon Rattle: Sucht den Klang, prägt ihn dann | |
| Die Berliner Philharmoniker spielen erstmals unter Kirill Petrenko, seitdem | |
| sie ihn zum künftigen Chefdirigenten gewählt haben. | |
| Ein Spaziergang durch Berlin: Ich schreibe Thierse eine E-Mail | |
| Früher verteilte Thierse am Kollwitzplatz Wahlkampf–Bierdeckel. Nun geht er | |
| dort spazieren. Ein Gespräch über die DDR, Lieblingsorte und Mieten. |