# taz.de -- Nachfolger von Simon Rattle: Sucht den Klang, prägt ihn dann | |
> Die Berliner Philharmoniker spielen erstmals unter Kirill Petrenko, | |
> seitdem sie ihn zum künftigen Chefdirigenten gewählt haben. | |
Bild: Eins geworden: Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker am Ende de… | |
Das erste Konzert der Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko, seitdem | |
ihn das Orchester vor knapp zwei Jahren zum künftigen Chefdirigenten | |
gewählt hat. Gehen wir gleich mal mittenrein. Tschaikowsky, 6. Symphonie, | |
die den Namen „Pathétique“ trägt, dritter Satz. Der so eigenartig unklar | |
anfängt, ohne Thema, ein Geflirre in den Streichern, in das sich Bläser | |
mischen mit Anklängen einer Marschmusik und wieder verschwinden. | |
Die gespannte, energiegeladene Stimmung am Beginn von etwas, von dem man | |
noch nicht weiß, was es wird, wohin es sich entwickelt. | |
Und dann mündet dieses Allegro molto vivace in einen sagenhaften Lauf zum | |
Ende hin, vor dem manche Konzertführer fast warnen: Nicht klatschen jetzt, | |
auch wenn man von dieser Musik dazu herausgefordert wird. Man müsste, man | |
wollte, aber es geht ja noch weiter, der vierte Satz folgt. Und trotzdem | |
ist man fast enttäuscht, wenn sich ein Publikum daran hält und kein | |
Jubelsturm losbricht. | |
Am Mittwochabend in der Berliner Philharmonie dann aber doch; jemand in | |
Block F links kann nicht anders und wirft ein entschiedenes „Bravo!“ in den | |
Saal, ein kurzer Applaus gesellt sich dazu. | |
Irgendwie doch auch schön, dass da kein abgeklärtes Publikum saß, sondern | |
eines, dass sich mitreißen ließ, bevor es zurückkehrte in den Zustand | |
gespannter Erwartung: Stille für das Adagio lamentoso. Petrenko in dem | |
Moment, verharrend, mit gesenktem Kopf vor dem Orchester, die Spannung | |
hinüberrettend. | |
## Man war dabei | |
Blenden wir zurück an den Beginn dieses Abends. Der Scharoun-Bau, | |
goldglänzend im Abenddunkel, draußen tosender Verkehrslärm, drinnen – | |
vielleicht meint man das auch nur – genau dieses Geflirre, das Tschaikowsky | |
im dritten Satz der „Pathétique“ zu Musik gemacht hat. Etwas beginnt, man | |
ahnt, dass es etwas Großes werden könnte. | |
Und das Konzertpublikum erlebt das in dem nicht unattraktiven Gefühl, | |
später sagen zu können, dabei gewesen zu sein. Wortfetzen fliegen durch das | |
Foyer, das Orchester habe im ersten Wahlgang 2015 mit recht starker | |
Fraktion zu Christian Thielemann tendiert, Chefdirigent der Staatskapelle | |
Dresden, konnte sich nicht entscheiden, brach ab. Und wählte im Juni | |
Petrenko, mit deutlicher Mehrheit. | |
Gerüchte rieseln umher, das Orchester habe den Dirigenten regelrecht nach | |
Berlin locken müssen. Und hatte er nicht in seinem ersten Statement nach | |
der Wahl gesagt, das sei „ein Schock“ für ihn? Jeder hat etwas gehört, | |
trägt es weiter. Dann ertönt der Gong, der in den Saal ruft. | |
Petrenko kommt als Legende, und das mit 45 Jahren in einem Gewerbe, in dem | |
oft vor allem die ganz Alten einen solchen Status erreichen. | |
Geboren 1972 in Omsk, in Wien zum Dirigenten ausgebildet, Kapellmeister an | |
der Volksoper dort, Jahre am Meininger Theater in der thüringischen | |
Provinz, von 2002 bis 2007 Generalmusikdirektor der Komischen Oper in | |
Berlin, einige Jahre frei unterwegs, seit 2013 Chef der Bayerischen | |
Staatsoper, ab 2019 Chef der Berliner Philharmoniker. Legende, weil Abende | |
mit ihm in Erinnerung bleiben, nicht vorbeihuschen, sondern sich einen | |
Platz suchen und nachklingen. | |
Legende auch, weil er sich seit einigen Jahren so rarmacht und keine | |
Interviews mehr gibt. Anwalt der Komponisten wolle er sein, hatte er bei | |
seiner Vertragsunterzeichnung in der Philharmonie gesagt; wie er vertieft | |
sich wohl keiner in die Partituren, probt, sucht den Klang und prägt ihn | |
dann. | |
Konzerte sind auch immer ein Seherlebnis, wie ein Tänzer gleitet Petrenko | |
zu Mozarts 35. Symphonie – der „Haffner“ – über die schmale Fläche se… | |
Pults. Als führe er nicht ein paar Dutzend Spitzenmusiker, sondern eine | |
federleichte Partnerin. Mozart leuchtet, mit einem Schlusssatz, der dem | |
Orchester fast den Atem nimmt. Und man erlebt, wie dieser Tänzer eins wird | |
mit dem Ensemble und es mit ihm. | |
Nach dem Mozart ein elegischer John Adams; die Vertonung von Walt Whitmans | |
„The Wound-Dresser“, das Klagelied eines Lazaretthelfers, gesungen von | |
Bariton Georg Nigl. | |
Als Wagnis wurde die Wahl Petrenkos zum Nachfolger Simon Rattles gedeutet, | |
weil er erst dreimal vor dem Orchester stand. Aber manchmal funkt es eben | |
schnell, und nach diesem Abend wird niemand zweifeln, dass es eine | |
glückliche Wahl gewesen sein wird. | |
Petrenko steht, als die „Pathétique“ wie ein Hauch verklungen ist, neben | |
dem Pult, mit in sich gekehrtem Lächeln. Wie ein Zauberer, dem gerade etwas | |
Verblüffendes geglückt ist. | |
24 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Felix Zimmermann | |
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