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# taz.de -- Ein Spaziergang durch Berlin: Ich schreibe Thierse eine E-Mail
> Früher verteilte Thierse am Kollwitzplatz Wahlkampf–Bierdeckel. Nun geht
> er dort spazieren. Ein Gespräch über die DDR, Lieblingsorte und Mieten.
Bild: Den Bart hat er noch: Wolfgang Thierse
Der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse hat einen besonderen Platz in den
Herzen meiner Familie. Aber bis jetzt haben wir ihn nur auf Abstand
bewundert. Um das mal zu erklären: Im Jahr 2005 war Bundestagswahl, mein
Mann war mit Freunden im Gugelhof am Kollwitzplatz essen, und Wolfgang
Thierse kam vorbei. Bill Clinton war auch schon im Gugelhof gewesen, an dem
Abend aber nicht. Thierse machte Werbung für seine Wiederwahl und hat
meinem Mann einen Bierdeckel mit seinem Konterfei geschenkt.
Vielleicht waren Bierdeckel als Wahlwerbung keine gute Strategie, zumal
mein Mann als Däne gar nicht wählen konnte: Angela Merkel hat die Wahl
gewonnen, ist Kanzlerin geworden – und Thierse war danach nicht mehr
Präsident des Deutschen Bundestags, aber immerhin dessen Vizepräsident. Und
wir haben da erfahren, dass der Politiker bei uns um die Ecke wohnt.
Seitdem trifft mein Mann oft Thierse, wenn sie beide auf dem Samstagsmarkt
einkaufen gehen. Mein Mann grüßt ihn, und der arme Thierse hat natürlich
keine Ahnung, wer der andere bärtige Mann ist. Aber er grüßt immer höflich
zurück.
Meine kleine Tochter geht in die hiesige Grundschule. Mit ihrer Klasse ging
sie einmal in den Bundestag und hat Thierses Autogramm bekommen. Es hing
jahrelang in ihrem Zimmer neben dem Autogramm von Jule von den
„Logo“-Kindernachrichten.
## Schamlos per Mail gefragt
Wir kennen uns also eigentlich schon, wir ihn vielleicht besser als er uns,
und deshalb lag es auf der Hand, für meinen letzten Artikel dieser Serie
über Orte in Berlin, an denen ich noch nie war, Wolfgang Thierse zu fragen,
ob er nicht mitkommen wolle als Begleitung ins Museum Pankow. Bis vor
Kurzem hieß es Prenzlauer Berg Museum, und obwohl es am Wasserturm fünf
Minuten von mir ist, habe ich es nie besucht.
Ich schreibe Thierse eine E-Mail und schamlos, wie ich bin, grüße ich ihn
vom Lehrer meiner Tochter. Den hatte nämlich auch Thierses Sohn in der
Schule und er ist dazu genau der Lehrer, den man sich für sein Kind
wünscht. Deswegen stelle ich mir vor, dass ich mit diesem Namen in der
E-Mail Thierse sogar überzeugen könnte, mit mir nach Tropical Islands zu
fahren. Da war ich aber schon, also bleibe ich beim Museum Pankow.
Wolfgang Thierse sagt ja, und am Tag der Verabredung sind wir beide eine
Minute vorher da. Wolfgang Thierse war schon in dem Museum, es ist aber
einige Jahre her.
Was die aktuelle Ausstellung angeht, sind wir also beide Novizen. Auch wenn
Thierse seit 1964 in Berlin lebt (genau 40 Jahre länger als ich), seit 1972
in Prenzlauer Berg (was genau mein ganzes Leben umgreift) und sich selber
„Urgestein“ im Kiez nennt. Wie ein echter Berliner, sagt Thierse selbst mit
einem Zitat von Kurt Tucholsky, kommt er aber aus Breslau.
## Sein Lieblingsort in der Stadt
Im Erdgeschoss liegt eine Kinderbibliothek, im ersten Stock das Museum. Im
Flur fängt es an mit einer umfangreichen Ausstellung über die Juden in der
Rykestraße und Umgebung, schon hier beginnt Thierse zu erzählen. Sein
Lieblingsort in der Stadt ist der jüdische Friedhof in der Schönhauser
Allee.
„Er ist ein Urwald und ein geschichtsträchtiger und tieftrauriger Ort“,
sagt er. „Hier liegt der Komponist Giacomo Meyerbeer und Gerson von
Bleichröder, der Bankier von Bismarck. Hier liegen der Maler Max Liebermann
und seine Frau Martha. Außerdem gibt es dort zwei sehr bewegende Orte: Der
eine ist das Grab von Vera Frankenberg, die bei einem Bombardement in der
Nähe gestorben ist. Ihre Mutter war Jüdin, und Vera durfte nicht in den
Luftschutzkeller. Als ich und meine Frau vor vielen Jahren hierher gezogen
sind, haben wir uns oft gewundert, dass immer ein Mann vor ihrem Grab
stand. Das war ihr Vater.
Zur DDR-Zeit wurde der Stein mehrmals zerstört. Auch wenn wir was gesehen
hätten, hätten wir nichts sagen dürfen. Offiziell gab es nämlich keine
Nazis in der DDR. Die andere Stelle ist ein Schacht, in dem sich 1945
einige Deserteure versteckt hatten. Sie wurden von der SS gefunden und in
den Bäumen auf dem Friedhof erhängt“, erzählt Thierse und nennt den
Friedhof, der längst für neue Gräber geschlossen ist, „ein Steinmuseum“.
Wir gehen in den Raum mit der Ausstellung, in der verschiedene zentrale
Prenzlauer-Berg-Orte und deren Geschichte dargestellt werden. Thierse
erzählt weiter. Wir sind die einzigen Besucher, und die Aufsichtsfrau guckt
mit großen Augen.
## Thierse „quatscht“ weiter
Wolfgang Thierse hält inne und sagt: „Entschuldigung, ich stehe nur hier
und quatsche.“ – „Und ich höre ganz aufmerksam zu. Wenn ich darf, Herr
Thierse“, sagt sie und dankt ihm für den Besuch.
Thierse „quatscht“ weiter, und mir wird klar, dass ich allen Bewohnern in
Prenzlauer Berg einen Besuch mit ihm im Museum gönnen würde. Er lässt sich
von der Ausstellung inspirieren und erzählt große und kleine Geschichten
mit feinem Blick fürs Detail.
Zum Beispiel, dass Prenzlauer Berg im Krieg relativ wenig zerstört wurde,
dass die DDR-Behörden „über die Prenzlauer-Berg-Seele beunruhigt waren“ u…
dass der DDR-Kulturwissenschaftler Horst Haase gesagt hat: „Prenzlauer Berg
ist keine Wohngegend. Es ist eine Weltanschauung.“
Als Thierse vor 45 Jahren ins Viertel zog, wohnten hier noch Reste des
alten Proletariats. „Mein Nachbar“, sagt er, „war ein Herr namens
Schätzchen. So hieß er wirklich! Er arbeitete in einen Milchladen und hat
Käthe Kollwitz noch persönlich gekannt.“
Mit seiner Frau hatte Thierse 1972 eine Wohnung fast da, wo heute der
LPG-Biomarkt liegt, bezogen. „Zwei Zimmer ohne Bad, Kohleheizung, aber mit
Innentoilette, ein großer Vorteil. Um diese Wohnung zu bekommen, mussten
wir jede Woche in zwei Aufgängen die Treppen wischen“, erzählt er und sieht
aus, als sei schon die Erinnerung anstrengend.
## Sein Beitrag zum Schönen
Das erste Kind wurde im Spülbecken gebadet, und die Dielen waren marode und
mussten ausgetauscht werden. Als Wolfgang Thierse mal nach Hause kam, fand
er ein Loch im Boden. Die Dielen waren weg. Die Handwerker auch. Aber er
wusste, wo sie zu finden waren: in der einzigen Kneipe in der Gegend, links
vom heutigen Café 1900 am Kollwitzplatz. „Eine Bierkutscherkneipe“, sagt
Thierse. „Sie fingen da früh an.“ Da saßen die Handwerker, und Thierse hat
sie angebrüllt. „Das musste man in der DDR. Brüllen. Dann gingen sie zurück
zur Arbeit“, sagt er und lächelt zufrieden.
Wir stehen vor dem Plan des Thälmann-Parks. Auf einem Foto sieht man einen
großen Gasometer. „Es gab Aktionen, um den Abbruch zu verhindern, was
leider nicht gelungen ist. Heute würde man sich nach so einem Gebäude die
Finger lecken“, sagt er. Der Gasometer musste Plattenbauten weichen. Die
Rykestraße wollte man auch abreißen. „Man hatte in der DDR nicht die
Technologie, um alte Häuser zu sanieren“, sagt Thierse. „Ende der Achtziger
wollte man in dieser Straße, die heute eine der schönsten in Berlin ist,
viergeschossige Fertigbauten aufstellen. Das wurde glücklicherweise
verhindert.“
Auch Wolfgang Thierse hat das Seine zur Verschönerung des Viertels
geleistet. Als es um die Geschichte vom Spielplatz Hirschhof in der
Oderberger Straße geht, erinnert er sich und gesteht: „Ich bin ein sehr
unpraktischer Mensch. Aber beim Bauen von Kinderspielplätzen habe ich Spaß
gehabt.“
## Fünf Tage danach fiel die Mauer
Prenzlauer Berg wird in den Medien oft beschimpft. „Zum
Prenzlauer-Berg-Bashing“, sagt Thierse, „möchte ich aber nicht beitragen.
Man kann doch nicht eine Käseglocke über das Viertel stellen und es als
Museum der proletarischen Vergangenheit bewahren. Im südlichen Prenzlauer
Berg hat seit 1989 ein fast vollständiger Bevölkerungsaustausch
stattgefunden. In meinem Haus wohnt ein Paar, das noch länger hier lebt als
ich. Aber sonst wohne ich unter jungen Leuten, das kann ich doch nicht
kritisieren. Hier wohnt man gut, es gibt Leben, aber nicht wie in Neukölln
oder Friedrichshain mit reinen Partyvierteln. Da lasse ich mich gerne als
Spießer beschimpfen, aber ich kann doch nicht traurig sein, dass das kleine
Bordell in unserem ehemaligen Haus dichtgemacht hat. Die Gentrifizierung
hat eine freundliche Vorderseite und eine leider auch schmerzliche
Rückseite: einerseits die schönen Häuser und andererseits die teuren
Mieten. So ist das.“
Auf dem Heimweg erzählt mir Wolfgang Thierse vom 4. November 1989. Da war
die größte Demonstration der DDR-Geschichte. Er wollte mit seiner Frau und
den zwei Kindern hingehen. Frau Thierse hat als gewissenhafte Frau der
Schule gemeldet, dass die Kinder wegen der Demo nicht kommen würden. Die
Schulleiterin hat gedroht, „das würde Folgen haben“. Fünf Tage danach fiel
die Mauer. Wieder zwei Wochen danach hat sich die Schulleiterin schriftlich
bei Familie Thierse entschuldigt. So war das vor gar nicht so langer Zeit
an der Schule meiner Tochter. So war das in Prenzlauer Berg.
Vor seinem Zuhause verabschiede ich mich von Herrn Wolfgang Thierse.
Bundestagspräsident a. D. und Urgestein.Die Autorin lebt als Journalistin
in Berlin und schreibt für dänische Medien. Sie hat ein Buch über Berlin
(auf Dänisch) geschrieben, und mit der zwölften Folge ist nun ihre Serie
„Blick von außen“ zu einem Schlusspunkt gekommen. Was aber nicht heißen
soll, dass für sie die Stadt damit auserzählt wäre
5 Mar 2017
## AUTOREN
Henriette Harris
## TAGS
Prenzlauer Berg
Pankow
Lesestück Recherche und Reportage
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Verschwindende Dinge
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