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# taz.de -- Film und Musik beim Musikfest Berlin: Hier spricht das Partialobjekt
> Das Musikfest Berlin kombiniert minimalistische Werke von Samuel Beckett,
> Gerhard Richter und der Komponistin Rebecca Saunders. Der Sog ist groß.
Bild: Wie ein Mund ohne Körper: Filmstill aus Samuel Becketts Film „Not I“
Eine schwarze Kinoleinwand. Wie aus dem Nichts erscheint im Bild ein Mund,
der zu sprechen beginnt, scheinbar ohne Körper. Eine Frauenstimme rast
durch einen hektisch rhythmisierten Monolog, feuert Silbensalben ab, der
Mund entblößt Zähne, Zunge, ganz selten schließen sich die Lippen. Den
geschilderten Ereignissen kann man kaum folgen, dafür hängt man umso mehr
wortwörtlich an diesen Lippen, die riesenhaft und etwas unheimlich im
großen Saal des Zoo Palasts in permanenter Bewegung zu sehen sind.
„Not I“ heißt dieses auf dem Musikfest Berlin gezeigte Stück des
Schriftstellers Samuel Beckett aus dem Jahr 1973, das er in einer
Fernsehproduktion für die BBC mit der Schauspielerin Billie Whitelaw
realisierte. Ihr Gesicht ist dabei schwarz geschminkt, bleibt unsichtbar,
allein das Kinn ist manchmal zu erkennen, wenn Whitelaw kurz pausiert.
Einmal löst sich mitten im Satz ein Speicheltropfen, bleibt unter dem Mund
kleben als reflektierende Irritation, die zugleich daran erinnert, dass ein
menschlicher Körper zu dieser wie abgetrennten Öffnung gehört.
Unter dem Titel „Film & Live-Musik“ kombinierte das [1][Musikfest Berlin]
am Montag zwei Fernseharbeiten Becketts mit der Aufführung von „Moving
Picture (946-3)“, einem Film des Künstlers Gerhard Richter und der
Regisseurin Corinna Belz, zu dem die britische Komponistin [2][Rebecca
Saunders] für den niederländischen Trompeter Marco Blauuw ein Stück für
Solotrompete und Live-Elektronik geschrieben hat. Zu hören war die
Uraufführung der Neufassung.
## Studie in den Nuancen von Grau
Verschiedene Formen des Minimalismus oder der Reduktion sind für alle
dieser Werke kennzeichnend. Wo „Not I“ sich streng oralfixiert gibt, als
wolle der Film das psychoanalytische Konzept der Partialobjekte
illustrieren, zu denen für die frühkindliche Beziehung auch die
(mütterliche) Stimme gehört, ist der andere Beckett-Film, „Geistertrio“,
eine Produktion für den Süddeutschen Rundfunk von 1977, eine Studie in den
Nuancen von Grau. In diesem Fall hat Beckett selbst Regie geführt.
Ein fast vollständig leerer Raum ist von der Längsseite her zu sehen. Im
hinteren Teil steht links eine niedrige Pritsche an der Wand, rechts ein
Schemel, an dessen einer Seite etwas Dunkles aufragt. An der leichten
Bewegung des Schattens kann man ausmachen, dass da anscheinend jemand
sitzt. Alles sehr geometrisch angeordnet. Wenn die Kamera sich später der
Figur nähert, entpuppt sie sich als der Schauspieler Klaus Herm mit langen,
wirren Haaren und einem knöchellangen schlichten Gewand.
Aus dem Off spricht erneut eine Frauenstimme, im Unterschied zu „Not I“
jedoch ruhig und langsam. Sie gehört der Schauspielerin Irmgard Först.
Diese Stimme beschreibt ihre eigene Stimme, beschreibt den gezeigten Raum,
die Objekte, den Mann. Wenn sie Boden und Wand benennt, tauchen diese im
Bild als horizontale beziehungsweise vertikale graue Fläche auf, die sich
bloß geringfügig vom Rest des Bilds abhebt. Der sitzende Mann wird, sehr
Beckett-gerecht, als Wartender benannt, er wartet auf eine Frau. In sein
Warten hinein erklingen Auszüge aus Ludwig van Beethovens „Geistertrio“.
Wenn der Mann Schritte zu hören meint, hebt er den Kopf, hält die Hand ans
Ohr. In diesen Momenten reißt die Musik unvermittelt ab, als würden die
Musiker auf sein Aufmerken reagieren oder als wäre das Heben der Hand nicht
allein eine Geste des Lauschens, sondern auch ein Befehl an alle anderen,
still zu sein. Ton und Bild kommen so in Becketts ausgeprägtem Sinn für das
Absurde zusammen, lassen einander gleichwohl sehr viel Raum.
## Ein Bild wie aus zahllosen Fraktalen
Ganz anders dagegen der Dialog von Film und Musik in „Moving Picture
(946-3)“ von Richter und Belz und Saunders. Farbige horizontale Linien
bewegen sich in permanenter Veränderung durch das Bild. Nach und nach
schälen sich aus den Linien regelmäßige Muster heraus, die schrittweise
größer werden, so als zoome die Kamera sich langsam heran. Irgendwann
erkennt man Strukturen, die sich regelmäßig spiegeln, so als bestünde das
Bild aus zahllosen Fraktalen.
Saunders’ Musik ist in ähnlicher Weise ständigen Veränderungen unterworfen.
Blauuw entlockt seinem Instrument lang gezogene Töne, die, unterstützt von
der Live-Elektronik, ins Geräuschhafte mutieren, ihre Klangfarbe ändern, in
obertonreiche Mehrklänge übergehen. In der Musik entfaltet sich so eine
Fülle aus dem einen Ton, während die Fülle an Ornamenten im Bild wie eine
sich bunt präsentierende Leere wirkt. Zusammen entsteht daraus ein Sog, von
dem man nicht weiß, wohin die Reise geht. Aber es geht voran.
17 Sep 2020
## LINKS
[1] /Start-des-Musikfests-2020-in-Berlin/!5704381
[2] /Orchester-Spektakel-beim-Musikfest/!5443184
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Neue Musik
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Gerhard Richter
Klassische Musik
Klassik
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