| # taz.de -- Start des Musikfests 2020 in Berlin: Ein großes Trotzdem | |
| > Viele Veranstaltungen fallen coronabedingt aus, das Musikfest in Berlin | |
| > findet aber statt. Eröffnet hat es in der Philharmonie der Pianist Igor | |
| > Levit. | |
| Bild: Seit Corona wissen es auch alle: Pianist Igor Levit machte zu Hause hocke… | |
| So richtig festlich ist die Stimmung ja nicht. Wenn überhaupt von | |
| „Stimmung“ die Rede sein kann, wenn nur einsame Maskentragende, höflich auf | |
| Abstand bedacht, einzeln durch die Einlasspforten der Philharmonie huschen. | |
| Es gibt kein Stimmengewirr, kein Gedränge, keine Garderobe und später keine | |
| Butterbrezeln in keiner Pause. | |
| Im Großen Saal bleibt am Dienstag, 25. August, jede zweite Reihe leer. In | |
| den Reihen dazwischen ist nur jeder dritte Platz besetzt. Man hat fast das | |
| Gefühl, als würde der Raum klagend hallen vor lauter Leere, als | |
| Kulturstaatsministerin Monika Grütters das Podium betritt, um zu sagen, wie | |
| sehr sie sich auf das Konzert freue und wie wichtig (eine Milliarde Euro | |
| extra) dem Staat die Kultur sei. | |
| Schon dass Grütters hier ist, zeigt, wie wenig normal alles ist. Der | |
| Auftritt der Ministerin ist ein Teil des großen „Trotzdem“. [1][Das | |
| Musikfest Berlin], vor allem als Orchesterfestival profiliert, bei dem sich | |
| alljährlich Ensembles aus aller Welt die Klinke der Berliner Konzertsäle in | |
| der Hand geben, musste sein ursprüngliches Programm an Pandemiebedingungen | |
| anpassen. Die internationalen Orchester bleiben zu Hause; zum Glück gibt es | |
| ja genug inländische Stars der Musikszene (und das Klangforum Wien darf | |
| auch kommen), sodass große Teile des Programms dennoch fast so wie geplant | |
| stattfinden können. | |
| Den ersten Teil von [2][Igor Levits] achtteiligem Beethoven-Sonaten-Zyklus | |
| hatte man ursprünglich als Sonntagsmatinee im Kammermusiksaal vorgesehen. | |
| Dass Levit jetzt im Großen Saal mit einem Solo-Recital das Festival | |
| eröffnet, hängt natürlich auch mit seinem neuen Status als Coronastar | |
| zusammen. Während des Lockdowns hatte der 33-Jährige abendliche | |
| Beethoven-Livestream-Konzerte gegeben – barfuß und im eigenen Wohnzimmer – | |
| und dabei sicherlich auch viele Menschen erreicht, die noch nie einen | |
| Konzertsaal von innen gesehen haben. Von diesen sind allerdings, wie es | |
| aussieht, an diesem ersten Festivalabend keine da. Der Pianist kommt in | |
| schwarzem Konzertschuhwerk. | |
| Beethoven in nicht chronologischer Reihenfolge | |
| [3][Beethoven] schrieb im Laufe seines Lebens insgesamt 32 Klaviersonaten; | |
| die erste mit Anfang zwanzig, die letzte dreißig Jahre später. Igor Levit | |
| präsentiert sie nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern hat für die | |
| acht Abende jeweils Sonaten aus unterschiedlichen Schaffensperioden | |
| zusammengestellt (nach welchen Kriterien, bleibt unerläutert; ein | |
| Programmheft gibt es nämlich auch nicht). Dieses erste Konzert, bei dem | |
| Levit vier Sonaten spielt, beginnt mit einem Frühwerk (op. 2), der Sonate | |
| Nr. 1 in f-Moll, die der junge Beethoven im streng klassischen Gestus | |
| seines Vorbilds Joseph Haydn komponierte (dem das Werk gewidmet ist), und | |
| endet mit der sogenannten Waldstein-Sonate, op. 21 C-Dur, in der sich | |
| exemplarisch der originäre, frei mit klassischem Formmaterial operierende | |
| spätere Beethoven zeigt. | |
| Igor Levit ist als Pianist ein Alleskönner, verfügt über eine offenbar | |
| mühelose Virtuosität und kann auch auf der atmosphärischen Seite ein | |
| Zauberer sein. Beides zeigt er gern, und beides passt ausgezeichnet zu | |
| Beethoven, dessen Musik oft ein stark performatives Moment eigen ist. Levit | |
| zuzuhören, der Beethoven spielt, ist jedenfalls keine Minute langweilig. | |
| Auch weil sich dabei schön verfolgen lässt, wie das Temperament des | |
| Interpreten und das des Komponisten mal kongenial zusammenfließen und dann | |
| wieder nicht so sehr. | |
| Auch Beethoven war Klaviervirtuose. Levits Hang zu irrwitzigen Tempi führt | |
| allerdings mitunter dazu, dass kaum noch zu hören ist, was er eigentlich | |
| spielt. Wahrnehmungsunschärfen stellen sich ein, allein bedingt durch die | |
| Geschwindigkeit der Tonabfolge. Auch beim ersten Satz der Waldstein-Sonate | |
| ist das so. Die Musik aber erleidet, wenn der Parameter „Tempo“ sich so in | |
| den Vordergrund schiebt, zwangsläufig einen Bedeutungsverlust. | |
| Dem leichtfertigen Charme kleiner Notenwerte erliegt Levit auch in manchen | |
| lyrischen Passagen, wie etwa im zweiten Satz der ersten Sonate, die er in | |
| ergreifender Kantabilität und Innigkeit beginnt, beides aber nicht mitnimmt | |
| durch die Läufe und Verzierungen, mit denen das Thema variiert wird. | |
| Die großen Kontraste und abseitigen Akzente, die Beethovens sprichwörtliche | |
| „Widerborstigkeit“ ausmachen, nimmt Levit generell eher sportlich als | |
| expressiv, spielt hochartikuliert in der brillanten Sopranlage, nimmt aber | |
| kontrapunktische Angebote in der Musik recht selten an und scheint dem Bass | |
| des Konzertflügels zu misstrauen, den er häufiger als nötig geheimnisvoll | |
| dämpft. Wie auch immer … Es gibt ebenso viele verschiedene Hörerwartungen | |
| wie Spieltemperamente. Dieser Beethoven ist Igor Levits Beethoven. Und die | |
| anderen sieben Konzerte werden bestimmt ebenso anregend zu hören sein. | |
| Am kommenden Samstag, 29. August, wird das Festival zunächst ganz klassisch | |
| mit Mozart (Staatskapelle, Barenboim) fortgesetzt. Ein Schwerpunkt liegt in | |
| diesem Jahr auf dem Werk der in Berlin lebenden Komponistin Rebecca | |
| Saunders. Wenn alles nach Plan läuft, [4][geht das Musikfest bis zum 23. | |
| September.] | |
| 26 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Musikfestivals-in-Berlin/!5703290 | |
| [2] /Pianist-Igor-Levit-ueber-Zivilcourage/!5535241 | |
| [3] /Das-Beethoven-Jahr-2020/!5653083 | |
| [4] https://www.berlinerfestspiele.de/de/musikfest-berlin/programm/2020/gesamt/… | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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