Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Musikfest Berlin: Hörgenuss auf Abstand
> Beim Musikfest Berlin war der Konzertbetrieb unter Einschränkungen zu
> erleben. Mit großen Momenten trotz übersichtlichem Publikum.
Bild: Auf kurzer Distanz: Bratschistin Tabea Zimmermann und Tenor Christian Ger…
Es ist ein beeindruckendes, verstörendes und etwas traurig stimmendes Bild.
Die Bühne des großen Saals der Philharmonie ist voll besetzt und dennoch
äußerst luftig. Mit reichlich Platz dazwischen haben sich die Sänger des
RIAS Kammerchors aufgestellt, [1][zwei Meter in jede Richtung müssen frei
bleiben, so die Hygienestandards des Berliner Senats]. Bis kurz vor Beginn
des Musikfests war unklar gewesen, ob die Proben für das Konzert überhaupt
möglich sein würden.
Vorn neben dem Dirigenten Justin Doyle sitzt bloß noch der Organist Martin
Baker, er steuert improvisierte Zwischenspiele bei, einige Chorstücke
begleitet er unauffällig. Den Großteil des Programms bestreitet der Chor
aber a cappella, Renaissancewerke von Orlando di Lasso, Palestrina,
Gesualdo und Tomás Luis de Victoria, flankiert von mittelalterlicher Musik
(Hildegard von Bingen) und einem frühbarocken Stück von Johann Bach, einem
Großonkel von Johann Sebastian. Eine Stunde darf das Konzert dauern, so
eine weitere Einschränkung für Vokalmusik.
Diese Stunde gestaltet der RIAS Kammerchor mit einer Fülle von schwebender
mehrstimmiger Schönheit, die sich durch die räumliche Anordnung stärker als
sonst in viele Einzelstimmen aufzuspalten scheint. Da der Chor einen sehr
homogenen und transparenten Klang kultiviert hat, stört diese akustische
Besonderheit nicht. Ebenso wenig der größere Hall, bedingt durch die
Sicherheitsabstände beim Publikum, wodurch im Saal maximal [2][ein Viertel
der 2.400 Plätze besetzt] sein dürfen.
## Konzentration auf das Wesentliche
Das Musikfest Berlin, das am Mittwoch in der Philharmonie zu Ende ging, war
keine Rückkehr zur Normalität des Konzertbetriebs, dafür jedoch ein
erfolgreicher Test, wie sich Musik unter Pandemiebedingungen vor Publikum
aufführen lässt. Was zu einer Konzentration aufs Wesentliche führte, wenn
man so möchte. In der Philharmonie gab es weder Gastronomie noch Garderobe,
keine Pausen in den Konzerten. Da nach anderthalb Stunden in der Regel
Schluss war, wurde einem das Sitzen nicht lang.
Bloß das Gespräch am Rand kam weniger leicht zustande, auch weil die
Besucher angehalten waren, sich je nach Sitzplatz zu einem bestimmten
Eingang zu begeben und im Inneren den Farbmarkierungen für den eigenen
Block zu folgen. Auf demselben Weg ging es dann wieder hinaus,
Zufallstreffen waren so fast nur auf der Toilette möglich.
Musikalisch unterschied sich dieses Musikfest in einer Hinsicht deutlich
von früheren Ausgaben. Das Festival, sonst eine Parade der großen
internationalen Orchester, musste sich in der aktuellen Lage auf die
Berliner Ensembles beschränken. Zu Besuch kamen lediglich Kammerensembles
wie das Klangforum Wien, das Kölner Ensemble Musikfabrik und das Ensemble
Modern aus Frankfurt. Insgesamt dominierten die kleineren, kleinen und ganz
kleinen Besetzungen.
## Wolfgang Rihm, Altmeister der Nachkriegsmoderne
So war das Abschlusskonzert, am Mittwoch zweimal hintereinander aufgeführt,
dem Kammerwerk des Komponisten Wolfgang Rihm, einem eigensinnigen
Altmeister der Nachkriegsmoderne, gewidmet. Handverlesene Musiker der
Berliner Philharmoniker spielten in Besetzungen von sechs und neun
Instrumentalisten neuere beziehungsweise überarbeitete Kompositionen in
bedächtig voranschreitendem Gestus, die den einzelnen Tönen nachhorchten.
Im Zentrum des Abends stand die Uraufführung von Rihms „Stabat Mater“ für
gerade mal zwei Solisten. Der Bariton Christian Gerhaher und die
Bratschistin Tabea Zimmermann boten die Vertonung des mittelalterlichen
liturgischen Texts als innigen zweistimmigen Klagegesang dar, manchmal
expressiver, dabei stets lyrisch und konzentriert.
Dass sich beim Musikfest nicht allein räumliche, sondern auch ästhetische
Abstände bemerkbar machten, wurde deutlich im direkten Vergleich des
Abschlusskonzerts mit dem Auftritt der Stipendiaten der Karajan-Akademie
der Berliner Philharmoniker am Vortag. Dort standen jüngere Komponisten im
Fokus, insbesondere die 1984 in Belgrad geborene Milica Djordjević war mit
drei Werken vertreten.
## Der Übergang zum Geräusch
Wo Rihm sich vorwiegend an herkömmlichen Spielweisen der Instrumente
orientiert, die Musiker mithin Töne spielen lässt, interessiert sich
Djordjević mehr für den Übergang vom Ton zum Geräusch, erzeugt durch
schmirgelnde oder brodelnde Klänge eine dichte Atmosphäre, in der
hauptsächlich die stark ausdifferenzierte Perkussion klare Akzente setzt.
Oder verwirrende, wenn ein Schlagzeuger mit einer leeren Plastikflasche
knistert.
[3][Beethoven-Jahr war ja auch noch]. Den Jubilar ehrte beim Musikfest
ausgiebig der [4][Pianist Igor Levit], der sämtliche 32 Klaviersonaten
Beethovens auf acht Konzerte verteilt präsentierte. Den Abschluss machte
die Trias der drei letzten Sonaten. Beethoven scheint in diesen Spätwerken
die musikalischen Formen hinter sich zu lassen und seine Ideen spontan aus
dem Material zu entwickeln.
So entspinnen sich im letzten Satz der Sonate No. 32 aus einem schlichten
Thema immer aberwitziger bewegte Variationen. Irgendwann fängt die Musik an
zu swingen wie in einem Ragtime von Scott Joplin. Bei Levit wurde daraus
purer Jazz. Den stillen Momenten der Sonaten verlieh er eine so feine
Spannung, dass man umso elektrisierter wurde, je leiser er spielte.
Bleibt zu hoffen, dass dies ein Auftakt für eine, wenn auch auf Sparflamme
wieder anlaufende Konzertsaison war. Am Freitag meldete die eigene
Corona-Warn-App die erste Risiko-Begegnung.
26 Sep 2020
## LINKS
[1] /Theater-in-Coronazeiten/!5709462
[2] /Musikfestivals-in-Berlin/!5703290
[3] /Das-Beethoven-Jahr-2020/!5653083
[4] /Start-des-Musikfests-2020-in-Berlin/!5704381
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Musikfest Berlin
Beethoven-Jahr 2020
Experimentelle Musik
Neue Musik
Klassische Musik
Konzert
Philharmonie
Musikfestival
Klassische Musik
taz.gazete
Deutsche Oper
Klassische Musik
Komponist
John Cage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Musikfestival Ultraschall Berlin 2022: Flüssiges Metall, farbige Glut
Das Festival Ultraschall Berlin spielt dieses Jahr wieder Konzerte vor
Publikum. Auf dem Programm steht auch eine „experimentelle Radio-Oper“.
Klassik für den Alltag: Demokratie bei Alban Berg
Die amerikanische Violinistin Clemency Burton-Hill hat einen Musikkalender
erstellt. Wer ihn hört und liest, wird sinnbildlich entführt.
Konferenz zu Kultur in der Coronakrise: Kleine Clubs sind dann einfach weg
Die Krise der Kulturwirtschaft bleibt ernst. In einer von den Grünen
organisierten Zoom-Konferenz diskutierten Branchenvertreter:innen die Lage.
Berliner Opernstart mit Wagner: Nichts davon ist ernst zu nehmen
Sieglinde und Siegmund zeugen einen Helden auf dem Klavier. Mit Richard
Wagners „Walküre“ eröffnet die Deutsche Oper Berlin die Spielzeit.
Start des Musikfests 2020 in Berlin: Ein großes Trotzdem
Viele Veranstaltungen fallen coronabedingt aus, das Musikfest in Berlin
findet aber statt. Eröffnet hat es in der Philharmonie der Pianist Igor
Levit.
Chormusik aus dem 20. Jahrhundert: Mickymaus-Mystizismus? Aber nein!
Arvo Pärt gilt als einer der schroffsten Komponisten unserer Zeit. Ein neu
aufgelegtes Album präsentiert seine Chorwerke aus der Wendezeit.
Ennio Morricone über Leone und Kubrick: „Im Kino ist alles enthalten“
Der italienische Komponist Ennio Morricone sieht das Kino als
Gesamtkunstwerk. Beinahe hätte er den Soundtrack zu „A Clockwork Orange“
geschrieben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.