# taz.de -- Ennio Morricone über Leone und Kubrick: „Im Kino ist alles entha… | |
> Der italienische Komponist Ennio Morricone sieht das Kino als | |
> Gesamtkunstwerk. Beinahe hätte er den Soundtrack zu „A Clockwork Orange“ | |
> geschrieben. | |
Bild: Der Meister dirigiert sich selbst: Ennio Morricone im Konzert. | |
sonntaz: Maestro, in Deutschland kennt man Sie vor allem für ihre Musik zu | |
den Western von Sergio Leone. In den 1960/70er Jahren gehörten Sie aber | |
auch zum Ensemble Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza, mit dem Sie | |
den Soundtrack zu Elio Petris psychedelischem Film „Un tranquillo posto di | |
campagna“ eingespielt haben. Wie passen Improvisation und Filmmusik | |
zusammen? | |
Ennio Morricone: Im Film gibt es in erster Linie Musik. Es gibt keine | |
prinzipiellen Vorgaben, wie diese zu sein hat. Es kann tonale Musik sein, | |
es kann auch abstrakte oder improvisierte Musik sein. Dieser Film war sehr | |
abstrakt, es ging um einen avantgardistischen Maler. Ich habe Elio Petri | |
daher vorgeschlagen, einen improvisierten Soundtrack zu wählen. Er war | |
einverstanden, und es hat funktioniert. Meine Erfahrung mit der Gruppo di | |
Improvvisazione war nicht nur für das Kino wichtig. Auch für meine absolute | |
Musik war sie ein bedeutender Einfluss. | |
In einem anderen Soundtrack für Petri, „Ermittlungen gegen einen über jeden | |
Verdacht erhabenen Bürger“, haben Sie die Klänge von Cembalo und | |
Maultrommel kombiniert. Was hat Sie dazu inspiriert, solch eher | |
ungewöhnliche Instrumente zu verwenden? | |
Der Hauptdarsteller Gian Maria Volonté spielte einen Sizilianer. Er hat im | |
Film mit Dialekt gesprochen, und die Maultrommel ist ein für Sizilien | |
typisches Instrument. Wenn die Figur nicht diese Herkunft gehabt hätte, | |
wäre es völlig sinnlos gewesen. | |
Haben Sie die Maultrommel sonst prominent verwendet? | |
Für den Film des Regisseurs Damiano Damiani, ich glaube, „La moglie più | |
bella“, schrieb ich ein kleines Konzert für mehrere Maultrommeln und | |
Orchester. Danach habe ich sie nicht mehr eingesetzt. Vielleicht noch in | |
einem Western von Leone. | |
In Ihrer Musik verwenden Sie auch Alltagsgeräusche, eine Strategie, für die | |
vor allem der Komponist John Cage bekannt wurde. Hat Cage in Ihrer | |
musikalischen Entwicklung eine große Rolle gespielt? | |
Cage hat im Grunde alle modernen Komponisten beeinflusst. Manche davon | |
haben dann bewusst ignoriert, was er gesagt hat, andere sind ihm gefolgt. | |
Doch was die nichtmusikalischen Klänge angeht, ist Cage für mich nicht so | |
wichtig. Bedeutender waren die Franzosen Pierre Schaeffer und Pierre Henry, | |
die sich die Musique concrète ausgedacht haben, in der sie Geräusche aus | |
dem Alltagsleben benutzten. | |
Neben experimenteller und klassischer Musik haben Sie auch Elemente der | |
Popmusik aufgegriffen. Sehen Sie die verschiedenen Formen als | |
gleichberechtigt an? | |
Die gleiche Wertstellung haben Sie für mich nicht. Aber auf jeden Fall die | |
gleiche Wichtigkeit. Was ist das Besondere an Filmmusik? Nun, da ist alles | |
drin, Pop, Rock, Volksmusik, Lieder, absolute Musik, abstrakte Musik, | |
Zwölftonmusik oder die Musik der Gruppo di Improvvisazione. Daher nenne ich | |
Filmmusik „echte zeitgenössische Musik“. Wenn man in der Zukunft unsere | |
Zeit betrachten und Nachforschungen darüber anstellen wird, dann wird man | |
im Kino auch Elemente finden, die etwas über unsere Gesellschaft sagen. | |
Darüber, wie gesund oder krank sie gewesen ist. Im Kino ist alles | |
enthalten. Auch Malerei. Es ist wie bei Wagners Idee des Gesamtkunstwerks. | |
Darum hat Kino für mich so eine große Wichtigkeit. | |
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, welche Stile, Gattungen oder | |
Instrumente Sie verwenden? Wie sehr haben Sie freie Hand, wie stark | |
bestimmen die Regisseure mit? | |
Ich lasse mich von meiner Intuition leiten. Der Film vermittelt mir | |
bestimmte Gefühle, nach denen entscheide ich, was ich für Stile oder | |
Instrumente benutze. Das wird dann vom Regisseur akzeptiert, oder auch | |
nicht. Ein anderer Komponist, der denselben Film gesehen hätte, hätte eine | |
andere Musik komponiert. Und diese hätte auch funktioniert. Warum? Musik | |
ist flexibel – es ist fast ein Wunder –, da Musik und Kino die gleiche | |
Grundlage haben: Dauer, Zeit. Stehe ich vor einem Bild, einer Skulptur, | |
habe ich in Sekunden einen starken Eindruck. Die anderen Künste brauchen | |
diese Unmittelbarkeit nicht, Musik, Kino und Tanz entfalten sich über eine | |
bestimmte Dauer. Diese Zeitlichkeit ist es, die die Musik sanft an das Kino | |
anpasst – und umgekehrt. | |
Sie erwähnten, dass Sie nicht nur Filmmusik, sondern auch absolute | |
Konzertmusik schreiben. Wie unterscheiden Sie zwischen diesen beiden | |
Formen, wenn Sie komponieren? | |
Ganz einfach. Die Filmmusik muss man an den Film, der das Hauptwerk ist, | |
anpassen. In der absoluten Musik ist das nicht der Fall. Da geht es um | |
meine Freiheit, auszudrücken, was ich denke. Der Job des Filmkomponisten | |
besteht gewissermaßen darin, der Musik ihre vom Film geraubte Freiheit | |
wiederzugeben. | |
Musik wird auch zu Folterzwecken eingesetzt. Um ein Filmbeispiel zu nehmen: | |
In „A Clockwork Orange“ wird der Protagonist mit Beethovens 9. Sinfonie | |
gequält. Und in der Realität gab es in jüngerer Vergangenheit Fälle wie | |
Guantánamo, wo Häftlinge mit Heavy Metal in den Wahnsinn getrieben wurden. | |
Wie kann man in solchen Fällen überhaupt noch den Unterschied zwischen | |
absoluter und „angewandter“ Musik aufrechterhalten? | |
Hier sehe ich auch für meine Arbeit ein Problem. Wenn es in einem Film um | |
Folter oder Gewalt geht, unterlege ich solche Szenen mit dissonanter statt | |
mit tonaler Musik. Diese freie, zeitgenössische Musik für Gewaltszenen zu | |
benutzen, stellt mich bis heute vor ein Dilemma: Erweise ich der | |
zeitgenössischen Musik nicht im Grunde einen Bärendienst, wenn ich sie in | |
diesen Szenen einsetze? Diese Frage habe ich bisher nicht lösen können. | |
Zu „A Clockwork Orange“ sollten Sie den Soundtrack schreiben. Es kam aber | |
nicht dazu? | |
Es war alles schon abgesprochen gewesen. Stanley Kubrick sagte mir, was für | |
eine Art von Musik er haben wollte. Es sollte etwas Ähnliches werden wie | |
bei „Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger“. Wir | |
hatten uns über die Bezahlung verständigt. Kubrick, der ein sehr höflicher | |
Mensch war, hat bei Sergio Leone angerufen, um sich über mich zu | |
erkundigen. Und Leone sagte ihm: „Morricone arbeitet doch gerade mit mir | |
zusammen.“ Dabei war meine Musik für Leone längst fertig, wir waren bloß | |
noch im Studio mit dem Mischen beschäftigt. Ich hätte nicht dort sein | |
müssen. Aber danach hat sich Kubrick nie wieder bei mir gemeldet. | |
Wenn Sie nach Deutschland kommen, um Ihre Musik zu dirigieren, werden Sie | |
dann auch die Hits aus den Spaghettiwestern von Leone spielen? | |
Ja, es wird eine Suite mit vier Themen aus drei Filmen geben. | |
Wird es auch unbekanntere Stücke geben? | |
Ja, in Berlin habe ich im Dezember den Europäischen Filmpreis für die Musik | |
zu „Das höchste Gebot“ von Giuseppe Tornatore erhalten. Ich werde zwei | |
Stücke aus diesem Film spielen. | |
Ihre Musik wurde häufig gecovert, in den achtziger Jahren auch vom New | |
Yorker Avantgarde-Komponisten John Zorn. Wie haben Sie auf diese und | |
spätere Bearbeitungen, etwa von Metallica, reagiert? | |
Ich habe nichts dagegen. Ich finde es gut, wenn die Musiker ihren Stil und | |
ihre Persönlichkeit in die Stücke einfließen lassen. Dann können sie | |
machen, was sie wollen. | |
Unsere Autoren trafen Morricone zum Jahreswechsel in dessen Wohnung im | |
Zentrum von Rom. | |
6 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
Sara Piazza | |
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