# taz.de -- 28. Europäischer Filmpreis: Die Beruhigung der Masse ist passé | |
> „Youth“ räumt beim Europäischen Filmpreis ab. Die Siegerfilme beweisen: | |
> Es lohnt sich wieder, mehr Kunst in der Filmkunst zu wagen. | |
Bild: Im Mittelpunkt des Rampenlichts: Charlotte Rampling und Michael Caine. | |
Willkommen! Und das heißt, in diesem Fall: Refugees Welcome! Thomas | |
Hermanns, der Moderator [1][des 28. Europäischen Filmpreises], ließ am | |
Samstag im Haus der Berliner Festspiele keinen Zweifel an einer | |
europäischen Haltung: Die Grenzen, die um Europa herum wieder aufgebaut | |
werden, verurteilte er zutiefst. | |
Dass die beiden spanischen Schauspieler Carlos Areces und Javier Cámara, | |
die die Anwärter auf die „Beste Comedy 2015“ präsentierten, bei ihrem | |
Auftritt charmant „Willkommen, Bienvenue, Welcome“ aus „Cabaret“ | |
intonierten, mag man getrost als Zustimmung deuten. | |
Gewonnen hat diese für den Preis typische Kategorie – nur die Europäische | |
Filmakademie hält es für nötig, lustige getrennt von ernsten Filmen | |
auszuzeichnen – der schwedische Beitrag „Eine Taube sitzt auf einem Zweig | |
und denkt über das Leben nach“ von Roy Andersson, der sich so ungefähr am | |
weitesten von allen Hollywood-Komödien entfernt, wie es überhaupt möglich | |
ist. | |
## Ein zum Mäusemelken langsamer Film | |
Vor allem, was das Timing betrifft, das persönliche und das filmtechnische: | |
Die Taube, die letztes Jahr bereits den Goldenen Löwen in Venedig | |
aufpickte, ist ein grandioser, ulkiger, abwegiger und zum Mäusemelken | |
langsamer Film, der sich kein bisschen um Comedykonventionen schert. | |
Wie skurrile Tableaus hat der 72-jährige „Slapstick-Bergman“ Andersson, der | |
nur ganz selten ganz besondere Filme macht, seine Szenen gebaut – | |
Hinke-Lottes Bar in Göteborg, in der man mit Küssen seine Drinks bezahlen | |
kann, die beiden misanthropischen Scherzartikelverkäufer, die sich | |
regungslos Vampirgebisse „mit besonders langen Fangzähnen“ ins Gesicht | |
stecken, oder das gefesselte Äffchen, das in einem Tierversuchslabor auf | |
seine Elektroschocks wartet, während im Hintergrund eine Mitarbeiterin den | |
wie ein lakonisches Leitmotiv durch den Film geisternden Satz „Schön zu | |
hören, dass es euch gut geht“ ins Telefon sagt. Denn so ist es ja nun mal | |
im Leben: Während es dem einen gut geht, geht es dem anderen, in diesem | |
Fall dem Äffchen, schlecht. | |
Dass „Amy“, die bunte, aber flache Biografie über Amy Winehouse, den Preis | |
für den besten Dokumentarfilm einheimste und sich damit gegenüber | |
Konkurrenten wie Joshua Oppenheimers „The Look of Silence“ über die | |
grausame systematische Ermordung angeblicher Kommunisten in Indonesien oder | |
„A Syrian Love Story“ über eine Liebe in Zeiten des Kriegs und der Flucht | |
durchsetzte, ist vielleicht das einzige Zugeständnis an die gute Laune, das | |
die europäische Filmakademie zu machen wagte. Und sogar dieses Musik-Biopic | |
erzählt eigentlich ein Drama – denn Amys Geschichte ist schließlich auch | |
ein Suizid auf Raten und nach Noten. | |
„Das geht nur in Europa – ein Sounddesign-Preis für einen sechs Stunden | |
langen Film ohne einen einzigen Schuss und mit nur einer Explosion“, | |
jubelte kurz vorher der Preisträger des Awards für das beste Sounddesign, | |
der an den Film „Arabian Nights I–III“ ging. Und brachte damit die | |
Unterschiede zwischen dem Oscar und seinem namenlosen, von der | |
Öffentlichkeit weitgehend ignorierten europäischen Schwippschwager auf den | |
Punkt: Bei dem einen muss es vor allem in „state of the art“-Manier | |
krachen, der andere versteht Sound immer auch als „Sound of Silence“. | |
## Michael Caine versagt die Stimme | |
Sir Michael Caine, die schönste Brille Englands, dessen Lehrbuch über | |
Schauspielerei den unbezahlbaren Tipp enthält, als originär rotblonder | |
Inselaffe nie ohne Mascara auf den Wimpern vor die Kamera zu treten, bekam | |
nach dem Ehrenpreis des Präsidenten der Akademie auch noch den Preis als | |
bester Schauspieler und war so gerührt (oder ist eben ein so guter | |
Schauspieler), dass seine voluminöse Stimme bei der Dankesrede fast | |
versagte. „Ich habe doch schon einen“, sagte er fassungslos, „ich wäre d… | |
auch nur für den einen gekommen!“ | |
„Youth“ von Paolo Sorrentino, in dem Caine einen ehemaligen Stardirigenten | |
spielt, wurde dazu als bester Film und für die beste Regie ausgezeichnet, | |
und Charlotte Rampling nahm (ähnlich gerührt wie Caine) den Preis als beste | |
Schauspielerin Europas entgegen. Die schnittfreie atemlose Nacht, durch die | |
sich „Victoria“ von Sebastian Schipper bewegt, blieb dagegen preislos. Doch | |
Christoph Waltz darf sich die glänzende Statue für seinen „Europäischen | |
Beitrag zum Weltkino“ jetzt neben den Oscar stellen. | |
Der Europäische Filmpreis gibt sich also wieder Mühe, bei der Filmkunst die | |
zweite Silbe zu betonen, und alles, was sich an guilty pleasures | |
einschleichen könnte, gleich im Keim zu ersticken. Und das ist richtig so: | |
Eine massenwirksame und massenberuhigende Unterhaltungsindustrie wie in | |
Holly- oder Bollywood darf in einem von politischen Krisen, Terror und | |
Flucht geschütteltes Terrain wie Europa nicht entstehen. | |
13 Dec 2015 | |
## LINKS | |
[1] https://www.europeanfilmacademy.org/News-detail.155.0.html?&tx_ttnews%5… | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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