# taz.de -- Bremer Filmemacher hoffen auf Berlinale: Die türkische Perspektive | |
> Orhan Çalişir, Cengiz Kültür und Dirk Meißner portraitieren ihrem | |
> aktuellen Film den politischen Künstler Zülfü Livaneli. Nun müssen sie | |
> ihren Film vermarkten. | |
Bild: Kritischer Liedermacher: Zülfü Livaneli (r.) bei einer Ehrung mit Armin… | |
BREMEN taz | Politische Sänger wie der kürzlich verstorbene Pete Seeger | |
sind in Westeuropa und den USA in aller Regel historische Figuren. In der | |
Türkei ist das anders: Dort gibt es Zülfü Livaneli. Der 1946 geborenen | |
Künstler sang in den 70er-Jahren Protestsongs und schrieb Texte, wegen | |
derer er verfolgt und schließlich gezwungen wurde, ins Exil zu gehen. Seine | |
Musik ist seitdem sehr populär und auch heute kommen noch Tausende zu | |
seinen Konzerten. | |
So ist es nur konsequent, wenn der Dokumentarfilm „Zülfü Livaneli – Eine | |
Stimme zwischen Ost und West“ mit Bildern von einer Demonstration 2013 auf | |
dem Taksim-Platz in Istanbul beginnt, die gerade von der Polizei gestürmt | |
wurde. Der Kameramann Cengiz Kültür drehte in dicken Tränengas-Schwaden, | |
während Zülfü Livaneli auf dieser Kundgebung eine Rede hielt. | |
Livaneli ist eine schillernde Künstlerpersönlichkeit. Er wurde in der | |
Türkei ins Gefängnis gesteckt, lebte lange im Exil, schrieb neun Romane, 30 | |
Filmmusiken und fünf Theaterstücke. In den 80er- und 90er-Jahren drehte er | |
Filme wie „Eisenhimmel – Kupfererde“ und „Nebel“, mit dem er 1989 fü… | |
europäischen Filmpreis nominiert wurde. Später war er Abgeordneter im | |
türkischen Parlament und verlor die Wahl für den Posten des Bürgermeisters | |
von Istanbul gegen den heutigen Ministerpräsidenten Erdogan. | |
Damit ein Porträt von Livaneli gelingt, muss ein subtiles Gleichgewicht | |
zwischen Persönlichkeit, Werk und Politik gehalten werden. Das ist den drei | |
Filmemachern gelungen, und das ist umso erstaunlicher, weil sie den Film | |
mit äußerst geringer Förderung und ohne die Unterstützung durch eine | |
Fernsehanstalt fertigstellten. | |
Auslöser für das Projekt war ein Auftritt von Livaneli in der Bremer | |
Kulturkirche vor zwei Jahren, den Orhan Çalişir und Cengiz Kültür unbedingt | |
filmen wollten, weil er einer der sowohl künstlerischen wie auch | |
politischen Helden ihrer Jugend war. Sie überzeugten den | |
Fernsehjournalisten Dirk Meißner, mit dem sie schon zwei andere | |
Dokumentationen gemacht hatten, an diesem Film mitzuarbeiten. Und dies, | |
obwohl Meißner, wie die meisten Deutschen, vorher noch nie von Livaneli | |
gehört hatte. | |
Zwei Jahre lang arbeiteten sich die drei an dem Film ab. Im Herbst des | |
letzten Jahres hatte er mit Livaneli als Gast Premiere in dem Bremer Kino | |
Schauburg. Kommende Woche wird er auf auf dem europäischen Filmmarkt der | |
Berlinale gezeigt. Die Filmemacher hoffen dort auf Käufer, denn zurzeit | |
haben sie noch keinen Verleih, und es gibt auch keinen Vertrag mit einem | |
Fernsehsender. | |
Bisher haben Çalişir, Kültür und Meißner für das öffentliche deutsche | |
Fernsehen Dokumentationen produziert, die sich dadurch auszeichnen, dass | |
sie aus einer türkischen Perspektive erzählt werden. Das ist im deutschen | |
Fernsehen immer noch selten: Türken und Moslems würden in Filmen deutscher | |
Filmemacher nach wie vor dargestellt, als kämen sie von einem anderen | |
Planeten, sagt Çalişir. | |
Einen Gegenentwurf dazu lieferten die drei 2009 mit ihrer von Radio Bremen | |
produzierten Dokumentation „Torf – Wie die türkischen Gastarbeiter nach | |
Lohne kamen“. In den 60er-Jahren reisten viele Türken in das | |
niedersächsische Lohne, um dort in der Torfproduktion zu arbeiten. Acht von | |
ihnen kamen aus dem gleichen Dorf in Anatolien, und als ältere Herren haben | |
sie sich für den Film noch einmal auf die gleiche Reise begeben. | |
Bei den Szenen, in denen sie ihre ehemaligen Chefs wiedertreffen, sagt die | |
Körpersprache auf beiden Seiten mehr als die ausgetauschten Höflichkeiten. | |
Zugleich gibt es viele türkische Familien, die sich in Lohne ansiedelten | |
und dort integriert sind. So gibt es mit Ramis Önder immerhin einen Türken | |
im Lohner Schützenverein – auch wenn seine Kameraden sich seinen Namen | |
nicht merken können und er deshalb für alle nur der „Günther“ ist. | |
Man merkt den Bildern das Vertrauen an, das die Protagonisten zu den | |
Filmemachern hatten. Dies war auch eine Grundbedingung für den Film, den | |
Çalişir, Meißner und Kültür 2012 drehten: In „Heimaterde“ folgten sie … | |
Leichnam eines im Ruhrgebiet gestorbenen Türken zurück in sein Bergdorf am | |
Schwarzen Meer. Sie fanden eine Familie, die nicht nur gestattete, sie bei | |
dieser schweren Reise zu begleiteten, sondern dabei auch eine erstaunliche | |
Nähe zuließ. Es gelingt, sehr sachlich und zugleich mit viel Taktgefühl zu | |
zeigen, wie solch eine Überführung und Beerdigung nach den moslemischen | |
Geboten vonstatten geht. | |
Die drei betonen, dass sie „Zülfü Livaneli“ gleichberechtigt als Autoren | |
und Regisseure gemacht haben. Dabei ergänzen sie sich mit ihren | |
unterschiedlichen beruflichen Erfahrungen. Kültür ist professioneller | |
Kameramann, Meißner arbeitet als Fernsehjournalist bei Radio Bremen und | |
Çalişir kommt vom Hörfunk. Er produziert regelmäßig politische Beiträge f… | |
das Funkhaus Europa, stieß aber schon 2001 an die Grenzen dieses Mediums, | |
als er über die Antiatomkraftbewegung in der Türkei berichtete. | |
Deshalb drehte er damals zusammen mit Michael Enger die knapp einstündige | |
Dokumentation „Weißer Brunnen – Akkuyu“, in der er ein kleines Dorf und | |
seine Bewohner vorstellte, die dagegen kämpften, dass in ihrer | |
Nachbarschaft, direkt an der malerischen türkischen Riviera, das erste | |
türkische Atomkraftwerk gebaut werden sollte. | |
In einem fast märchenhaften, trügerisch idyllischen Ton wird hier von der | |
Solidarität der Bauern erzählt. Da wird ein Bürgermeister vom Gegner zum | |
Befürworter und hat plötzlich das Geld für ein großes Haus. Dennoch wächst | |
der Widerstand und ist schließlich erfolgreich: Das Projekt wurde erst | |
einmal auf Eis gelegt. In diesem Jahr soll nun doch der Bau eines | |
Kernkraftwerks durch einen russischen Konzern beginnen. Da könnte Orhan | |
Çalişir ja eine Fortsetzung drehen. | |
4 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
## TAGS | |
Kino | |
Kinogeschichte | |
Dokumentarfilm | |
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