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# taz.de -- Berlinale 2014: Seltsame Zwitterwesen
> Mit gesellschaftlich relevanten Themen hausieren gehen und die Ästhetik
> vernachlässigen? Vielleicht, aber es gibt auch Sex. Ein Ausblick auf die
> Berlinale.
Bild: So sieht es aus, wenn sich professionelle Schauspieler von Pornodarstelle…
Es ist immer eine gute Idee, sich der Berlinale vom Rande her zu nähern.
Zum Beispiel, indem man 90 Minuten lang durch ein Schneegestöber
hindurchgeht.
„Al doilea joc“ („The Second Game“), ein Filmessay von dem rumänischen
Regisseur Corneliu Porumboiu, läuft in einer Nebenreihe, dem
Internationalen Forum des Jungen Films, und so wie Porumboiu seinen Film
anlegt, ist ihm eine marginale Position vorbestimmt. Denn die Mittel sind
bescheiden, die Anordnung ist ein Experiment: Man sieht nichts als ein
Fußballspiel, das die rumänischen Erstligisten Dinamo und Steaua im
Dezember 1988 austrugen.
Die Qualität der Bilder ist dürftig, da es sich um eine Videoaufzeichnung
der Fernsehübertragung handelt. Die Schlierigkeit von VHS und das
Schneegestöber verstärken sich gegenseitig. Aus dem Off kommentieren der
Regisseur und sein Vater, was sie sehen.
Das Besondere daran ist, dass der Vater Schiedsrichter der Partie war.
Heute erklärt er seinem Sohn, warum es wichtig ist, sparsam mit gelben
Karten umzugehen, oder die beiden erörtern, mit wie vielen Kameras das
Staatsfernsehen das Spiel aufzeichnet und was wann im Bild ist. Dass ein
Spieler sich am Kopf verletzt, bleibt zum Beispiel ausgespart, offenbar
waren in diesem Moment und sicherlich nicht zufällig die Zuschauerränge im
Bild. Erst später bemerkt man dann den blutigen Verband, das weiße Trikot
mit den roten Flecken und damit auch eine Lücke; man merkt, dass einem eine
entscheidende Szene der Partie vorenthalten, der Blick gelenkt wurde.
Und das ist nicht der einzige Versuch der Steuerung. Die Mannschaften waren
den Institutionen des Ceauşescu-Regimes verbunden; Dinamo der Securitate,
Steaua der Armee. Es kam vor, berichtet Porumboius Vater, dass man ihn vor
Spielbeginn kontaktierte, um ihm nahezulegen, diesen oder jenen
Spielausgang herbeizuführen.
„Al doilea joc“ ist ein Glücksfall für ein Filmfestival. Obwohl er in der
Wahl seiner Mittel so bescheiden ist, öffnet dieser Film einen riesigen
Raum. Er reicht zurück in eine andere Zeit, in ein anderes
Gesellschaftssystem, eine andere Technik (des Fußballspiels, der
Bilderproduktion), in ein Land, das es so nicht mehr gibt, dessen
totalitäre Vergangenheit aber längst nicht überwunden ist. Dabei protzt
Porumboiu nicht mit einem wichtigen Thema, einer Botschaft oder
dergleichen. Alles, was „Al doilea joc“ verlangt, ist ein bisschen Geduld,
ist, sich 90 Minuten lang auf ein Fußballspiel einzulassen, von dem man
schon weiß, wie es endet: mit null zu null.
## Bitte keine Arthouse-Plattitüden
Man wünscht sich, dass es im Zentrum der Berlinale, im 20 Filme umfassenden
Wettbewerb, auch so zugeht. Dass da niemand mit gesellschaftlich relevanten
Themen hausieren geht und darüber das Nachdenken über die ästhetischen
Mittel vernachlässigt. Dass die Plattitüden und plot points des
Arthouse-Kinos keinen Platz finden.
Wenn man aber der Programmankündigung entnimmt, dass es um den
Nordirlandkonflikt („71“, Regie Yann Demange), um den Afghanistaneinsatz
der Bundeswehr („Zwischen Welten“, Regie Feo Aladag), um katholischen
Fundamentalismus („Kreuzweg“, Regie Dietrich Brüggemann), um eine
Flüchtlingssiedlung in Wien-Simmering („Macondo“, Regie Sudabeh Mortezai)
oder um vernachlässigte Kinder in Berlin-Siemensstadt („Jack“, Regie Edward
Berger) gehen wird, ertappt man sich bei dem Gedanken: So ist sie eben, und
so wird sie immer sein, die von Dieter Kosslick dirigierte Berlinale. Allen
in den Vorjahren spürbaren Neuerungsbestrebungen zum Trotz.
## Wes Anderson, Alain Resnais, Dominik Graf
Nun hat es wenig Sinn, über ungesehene Filme zu spekulieren. Und es gibt ja
auch genug, worauf man sich freuen kann. Zum Beispiel auf Wes Andersons
neuen Film „The Grand Budapest Hotel“, mit dem es am Donnerstagabend im
Berlinale-Palast losgeht. Oder auf „Aimer, boire et chanter“ von dem
französischen Regisseur Alain Resnais. Der Film adaptiert ein Theaterstück
von Alan Ayckbourn und wird sicherlich eine Feier schwindelerregender
Selbstreferenzialität.
Der in vielen Genres bewanderte Dominik Graf steuert zum Wettbewerb das
period piece „Die geliebten Schwestern“ bei. Es handelt von der
Ménage-à-trois, die Friedrich Schiller 1788 mit den Schwestern Caroline von
Beulwitz und Charlotte von Lengefeld einging. Und auch für die Freunde
Richard Linklaters gibt es gute Nachrichten: Er ist mit „Boyhood“
vertreten, einem Spielfilm, der sich der aus Dokumentarfilmen bekannten
Langzeitbeobachtung verschreibt.
In den Nebenreihen ist „Al doilea joc“ nur ein Film von vielen, die mit
Spannung erwartet werden. Das Forum präsentiert zum Beispiel die Aufnahmen,
die britische Soldaten im April 1945 machten, als sie das
Konzentrationslager Bergen-Belsen befreiten. Ursprünglich waren die Bilder
dazu gedacht, in einen Film einzugehen, der die Deutschen dazu gezwungen
hätte, sich mit den Verbrechen in den Konzentrationslagern
auseinanderzusetzen. Doch daraus wurde nichts; die Bilder verschwanden im
Archiv. Ein Fragment des Films – an dem übrigens Alfred Hitchcock
mitarbeitete – wurde vor 30 Jahren uraufgeführt, in der vollständigen
Fassung wird „German Concentration Camps Factual Survey“ erst jetzt zu
sehen sein.
## Lars von Triers „Nymph()maniac“ liefert Stoff zum Nachdenken
Und schließlich gibt es noch einen Coup: Außer Konkurrenz zeigt die
Berlinale die ungekürzte Fassung des ersten Teils von Lars von Triers
„Nymph()maniac“. Zwar sind die beiden Teile jeweils in der gekürzten
Fassung schon in mehreren Ländern angelaufen, aber die lange, explizite
Fassung erlebt im Berlinale-Palast ihre Weltpremiere. Und so viel lässt
sich schon jetzt verraten: Die Geschichte einer Frau namens Joe (verkörpert
von Charlotte Gainsbourg und Stacy Martin), die ihren Hunger nach Sex nicht
zügelt, liefert viel Stoff zum Nachdenken.
Darüber zum Beispiel, was passiert, wenn professionelle Schauspieler sich
in Sexszenen von Pornodarstellern doubeln lassen, also gewissermaßen durch
Stuntmänner und -frauen ersetzt werden, wie es in Actionfilmen gang und
gäbe ist. Man bekommt es – die digitalen Techniken der Bildgenerierung
machen es möglich – mit seltsamen Zwitterwesen zu tun: Der Kopf von Shia
LaBeouf wird digital mit dem Körper von jemand anderem verbunden, ohne dass
man dies erkennen könnte. Die Vorstellung, man sehe echten Sex, wird von
den Illusionstechniken des Kinos herausgefordert.
Und noch eine andere Vorstellung steht auf dem Spiel: die, dass sich das
Drama der Sexualität heute, da die Logik des Konsensuellen überkommene
Moralbegriffe abgelöst hat, erledigt habe. Indem er vom Leid einer Frau
erzählt, die ihre unzähmbare Lust eben nicht nur als Freude, sondern auch
als Schuld und Schande erlebt, bringt Lars von Trier dieses Drama noch
einmal zur Aufführung. Schade nur, dass nach 145 Minuten Schluss ist und
man „Nymph()maniac Volume II“ in der ungekürzten Fassung vermutlich erst
sehen kann, wenn die DVD erscheint.
6 Feb 2014
## AUTOREN
Cristina Nord
## TAGS
Wettbewerb
Film
Kino
Dieter Kosslick
Wes Anderson
Film
Boyhood
Dokumentarfilm
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Volker Schlöndorff
Theater
Dominik Graf
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