# taz.de -- Retrospektive Berlinale: Licht und Schatten | |
> „The Aesthetics of Shadow“: Über Beleuchtung in japanischen, | |
> amerikanischen und europäischen Filmen aus den ersten Jahrzehnten des | |
> Kinos. | |
Bild: Betty Compson und George Bancroft in „The Docks of New York“ von Jose… | |
Nur für eine Nacht hat die Hauptfigur in Josef von Sternbergs „The Docks of | |
New York“, ein von George Bancroft verkörperter Heizer, Landgang. Er | |
entsteigt dem infernalischen, düster dampfenden Schiffsbauch, in dem er | |
seine Tage verbringt, und stürzt sich im Hafenviertel der verruchten | |
Nachtclubs und behelfsmäßig eingerichteten Apartments in die Liebe zu einem | |
„gefallenen Mädchen“. | |
Diese Liebe setzt sich in dem späten, atmosphärischen Stummfilm am Ende | |
durch – gegen alle Wahrscheinlichkeiten, vor allem aber auch gegen den | |
lockenden Ruf der beiden unterschiedlichen Schattenwelten, in der die | |
beiden Liebenden vorher zu Hause waren. Gleichzeitig aber ist auch die | |
Liebe dem Schatten entsprungen, und zumindest die Frau befürchtet, dass sie | |
im hellen Licht des Tages wieder dahinschmelzen könnte. | |
Die Ästhetik des Schattens ist also eine komplizierte Angelegenheit: Im | |
Dunklen lauern die Ungeheuer, gleichzeitig ist man in ihm vor dem Zugriff | |
der nüchternen Realität wenigstens vorübergehend sicher. | |
„The Aesthetics of Shadow“, die diesjährige Retrospektive der Berlinale, | |
versammelt japanische, amerikanische und eine Handvoll europäische | |
Schattenfilme aus den ersten Jahrzehnten des Kinos. Zum zweiten Mal | |
organisiert die Deutsche Kinemathek die Filmschau in Zusammenarbeit mit dem | |
New Yorker MoMA, und tatsächlich gibt es auffallende Parallelen zur | |
letztjährigen Reihe „The Weimar Touch“, die dem Einfluss deutscher | |
Exilanten im internationalen Kino nach 1933 nachspürte. | |
## Visuelle Oberfläche des Kinos | |
Wieder geht es um Filmgeschichte als einen internationalen Zusammenhang, um | |
Einflussnahmen, Wechselwirkungen, (Un-)Gleichzeitigkeiten. Und wieder spürt | |
die Filmschau diesen Interferenzen vor allem auf der Ebene des filmischen | |
Stils nach: „Lighting Styles 1915–1950“ lautet der Untertitel. Vielleicht | |
hat diese verstärkte Aufmerksamkeit für die visuelle Oberfläche des Kinos | |
auch etwas damit zu tun, dass in diesen Jahren die letzte Gelegenheit | |
bestehen dürfte, historische Filmprogramme weitgehend materialgetreu zu | |
präsentieren. | |
Mit wenigen Ausnahmen werden die Retro-Filme als 35-mm-Kopien vorgeführt – | |
und werden ein weiteres und hoffentlich nicht letztes Mal den Beweis | |
führen, dass auch die beste digitale Abtastung nur eine Ahnung geben kann | |
von der ganz eigenen Materialität des Zelluloidbilds. | |
Lichtsetzung im Kino ist natürlich ein weites Feld – schließlich ist bei | |
jedem Film, der nicht einfach nur Schwarzbild zeigt, in der einen oder | |
anderen Form Beleuchtung im Spiel. Schon das weist darauf hin, dass „The | |
Aesthetics of Shadows“, stärker noch als „The Weimar Touch“, nicht einfa… | |
nur eine filmhistorische, sondern eine filmhistoriografische Retrospektive | |
ist; nicht als Nacherzählung und Bebilderung einer bekannten Geschichte ist | |
die Reihe angelegt, sondern als ein eigenständiges Forschungsvorhaben. | |
Ihren Ausgangspunkt hat die Reihe in einer aktuellen akademischen Arbeit, | |
einem erst 2013 veröffentlichten Buch des japanischstämmigen, aber in den | |
USA arbeitenden Filmhistorikers Daisuke Miyao, dem sie auch ihren Titel | |
entlehnt. | |
## Ästhetik des japanischen Films | |
Miyao zeichnet nach, wie die eigenständige Ästhetik, die das japanische | |
Kino in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ausbilden konnte, gerade | |
nicht auf kulturanthropologische Konstanten (auf die sich zum Beispiel der | |
Schriftsteller Tanizaki Jun’ichirô in seiner berühmten Schrift „Lob des | |
Schattens“ beruft) zurückzuführen ist, sondern in einem intimen Dialog mit | |
dem internationalen, vor allem mit dem amerikanischen Kino entstand. | |
Er erzählt diese Geschichte entlang einzelner Biografien, zum Beispiel der | |
Henry Kotanis, der zunächst als Kameramann den frühen amerikanischen Film | |
mitprägte und anschließend in den 1920er Jahren das japanische Kino | |
mithilfe der in Kalifornien erworbenen Kenntnisse modernisierte. | |
Die Berlinale-Retrospektive zeichnet Miyaos Argument ausführlich nach. Was | |
auch heißt, dass sich in den nächsten zehn Tagen die äußerst seltene | |
Gelegenheit bietet, einen breiten Einblick in das historische japanische | |
Filmschaffen zu gewinnen. Neben Klassikern wie Akira Kurosawas „Rashomon“ | |
werden auch Raritäten aus den ersten Jahrzehnten der japanischen | |
Filmindustrie präsentiert, zum Beispiel Kotanis Sozialdrama „Das Licht des | |
Herzens“ aus dem Jahr 1926. | |
## Muster aus Regenschirmen | |
Oder, ein Geheimtipp innerhalb der Filmschau: das gut zehn Jahre später | |
entstandene, wundervoll luftige Musical „Die Liederschlacht der | |
Mandarinenten“ von Masahiro Makino. Da verliebt sich die Tochter eines | |
Regenschirmherstellers in einen – auch von anderen Mädchen umschwärmten – | |
herrenlosen Samurai, andauernd brechen die Figuren in fröhlichen Gesang | |
aus, verarmen plötzlich, werden doch plötzlicher wieder reich und schmeißen | |
am Ende für die Liebe alles hin. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle, | |
erratisch und bezaubernd wie die immer wieder neuen Muster der den Film | |
visuell rhythmisierenden Regenschirme. | |
Besonders schattenintensiv oder auch nur dunkel ist der Film bei aller | |
Kameravirtuosität allerdings nicht. Anders als im Weimarer Expressionismus | |
– dessen filmisches Manifest „Das Kabinett des Dr. Caligari“ läuft paral… | |
digital restauriert in der Reihe „Berlinale Classics“ – sind die Schatten, | |
denen Miyao im japanischen Kino nachspürt, keine die Welt verschlingenden | |
Manifestationen psychischer oder metaphysischer Untiefen. | |
Eher geht es um sanfte Nivellierungen des Sichtbaren, um jene Schatten, die | |
immer schon Teil der Objekte und Körper sind, um Schatten, die passiven | |
Widerstand leisten gegen das Diktum der allumfassenden Sichtbarkeit, dem | |
sich das Kino bis heute so oft verschreibt. | |
## Gefahr der Beliebigkeit | |
Das sind natürlich abstrakte Unterscheidungen, zu denen die einzelnen Filme | |
dann wieder fast notwendigerweise quer stehen. In solchen Abstraktionen | |
zeigt sich auch das Risiko, das die Berlinale-Retro dieses Jahr eingeht. | |
Eine Filmschau, die sich nicht entlang mehr oder weniger selbsterklärender | |
Kategorien wie den Biografien der Regisseure oder Genres organisiert, | |
sondern eine eigene Theorie des Kinos entwickelt, gerät leicht in Gefahr, | |
beliebig zu wirken. | |
In der Tat sind manche kuratorischen Entscheidungen alles andere als | |
selbsterklärend: Der amerikanische Film noir zum Beispiel gilt zwar als | |
Schattenkino par excellence, die Berlinale zeigt aus diesem Bereich aber | |
ausgerechnet Jules Dassins „The Naked City“ (1948), der die berühmte | |
Chiaroscuro-Beleuchtung gerade nicht einsetzt, stattdessen auf stilisierte | |
Lichtsetzung komplett verzichtet, sich eher einem dokumentarischen Blick | |
annähert. | |
Anders herum kann man sich über Auslassungen wundern. Josef von Sternberg | |
etwa, ein führender Schattenkünstler Hollywoods, der gerade in Japan | |
besondere Anerkennung genießt, ist zwar mit gleich zwei Filmen dabei; eine | |
besonders interessante Querverbindung hätte jedoch sein vorletzter Film | |
sichtbar gemacht: Gegen Ende seiner Karriere hatte sich der in Amerika in | |
Ungnade gefallene Meisterregisseur selbst nach Japan aufgemacht und da | |
einen seiner auch visuell intensivsten Filme gedreht, der seltsamerweise | |
schon bei Miyao unerwähnt bleibt: „The Saga of Anatahan“, ein | |
weltvergessenes, erotomanes Drama, in dem am Ende das Gesicht der begehrten | |
Frau ganz buchstäblich zu einem Scheinwerfer wird. | |
Vielleicht allerdings spricht gerade das dafür, dass sich die Kinemathek | |
mit dieser überaus ambitionierten Reihe auf dem richtigen Weg befindet: Man | |
möchte sie im Kopf gleich fortsetzen, ausbauen, am besten bis in die | |
Gegenwart hinein. Einem Filmprogramm wie „The Aesthetics of Shadow“ geht es | |
nicht darum, einen abgeschlossenen Korpus zu erschließen, sondern neue Wege | |
in die Filmgeschichte hinein sichtbar zu machen. | |
6 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Lukas Foerster | |
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Nazif Mujic | |
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