| # taz.de -- Spielfilm über Junkie-Freundschaft: Attraktive Loser mit zu viel Z… | |
| > Was machen wir heute? Pillen schmeißen. Claudio Caligaris „Tu nichts | |
| > Böses“ lebt von Anarchie und schlägt sich auf die Seite der Geschundenen. | |
| Bild: Luca Marinelli als Cesare in „Tu nichts Böses“ | |
| Nicht ganz eine handvoll Spielfilme hat der italienische Regisseur Claudio | |
| Caligari seit den frühen Achtzigern realisiert. Genau genommen sind es | |
| eigentlich nur drei: „Amore tossico“ (1983), „L’odore della notte“ (1… | |
| und „Non essere cattivo“ (2015). Letzterer ist gleichermaßen auch Caligaris | |
| finales Werk, denn kurz nach Vollendung des Films verstarb der 1948 in | |
| Arona Geborene, weswegen die Premiere in Venedig einige Monate später ohne | |
| ihn stattfinden musste. | |
| In Deutschland startet „Non essere cattivo“ heute unter dem appellierenden | |
| Titel „Tu nichts Böses“ in den Kinos. Und er gliedert sich gut ein in diese | |
| Trilogie um randständige Figuren an den Außenrändern Roms. Dabei ist „Amore | |
| tossico“ der einzige Film dieser Reihe, der sich tatsächlich an der | |
| Gegenwart versucht, während „L’odore della notte“ im Rom des Jahres 1979 | |
| angesiedelt ist und „Non essere cattivo“ auf Ostia 1995 datiert ist. Das | |
| ist ein interessanter Bogen, denn die Strände der römischen Vororte waren | |
| auch Handlungszentrum von „Amore tossico“ gewesen, der im jugendlichen | |
| Junkie-Milieu spielte und zum Kultfilm avancierte. | |
| Nun, ein gutes Jahrzehnt später, in den Neunzigern, liegen zwar immer noch | |
| einige Spritzen am verlassenen Strand herum (Cesare, gespielt von Luca | |
| Marinelli, sticht sich gleich zu Beginn das Films an einer), doch von ihren | |
| Benutzern fehlt jede Spur. Die große Fixerwelle, so scheint es, ist 1995 | |
| vorbei; Cesare und dessen bester Freund Vittorio (Alessandro Borghi) finden | |
| eher Gefallen an Pillen. Was beide Filme aber, abgesehen vom Strand, gemein | |
| haben, ist die Langeweile. | |
| Ihr ist auch der erste Pillenrausch von „Non essere cattivo“ zu verdanken: | |
| „Was machen wir heute?“, fragt einer den anderen. Kurz darauf liegen zwei | |
| gelbe Tabletten, „Playboys“, auf den Zungen und wenig später tobt Cesare | |
| über einen Parkplatz, „Paradiso!“ rufend. Caligari hat für seinen | |
| männlichen Hauptcast mit Luca Marinelli und Alessandro Borghi zwei äußerst | |
| fotogene Gesichter aufgetan, beide mit großen, wässrigen Augen (gefühlt | |
| sind sie immer aufgerissen) und ausgeprägter Knochenstatik. | |
| ## Leicht brutale Präsenzen | |
| Vittorio ist in der ersten Hälfte des Films mit einer kleinen | |
| Rundglasbrille unterwegs und trägt kurzgeschorene Haare; Cesare hat sein | |
| Deckhaar zu einem Pferdeschwanz gebunden, der Rest ist abrasiert (später | |
| wird er es ausschließlich offen tragen). Leicht brutale Präsenzen, die | |
| wegen ihres Auftritts als Duo aber auch ins Komische tendieren. Personen | |
| von Respekt oder Anführer in diesem von Kriminalität durchseuchten Ostia | |
| sind Cesare und Vittorio jedenfalls nicht, bestenfalls ansehnliche Loser | |
| mit zu viel Zeit. Sympathische Kreaturen dennoch, auch nicht allzu komplex | |
| gestrickte. | |
| Etwas schwerer verhielt es sich da schon mit Remo Guerra (Valerio | |
| Mastandrea) in „L’odore della notte“, Caligaris Neo-Noir um einen | |
| Polizisten, der ein Doppelleben führt. Bei Tag verteidigt er das | |
| Rechtssystem, das er bei Nacht bricht. Guerra lauert den Reichen Roms auf, | |
| um sie ihrer Pelzmäntel und Goldketten zu berauben (einmal hängen noch | |
| blonde Haare an einer dieser Ketten, der Guerra an einem Brunnen das Blut | |
| abzuwaschen versucht). | |
| Die Geschichte um das antisoziale (und dabei gewissermaßen gleichsam | |
| gerechte) Tun des Polizisten basiert lose auf einem Roman Dido Sacchettonis | |
| und ist produziert von Marco Risi, dem Sohn des italienischen | |
| Regiealtmeisters Dino Risi. Ein spannender Film, der sich über eine kleine | |
| Anhängerschaft freuen kann, davon abgesehen jedoch kaum Aufmerksamkeit | |
| erfährt. Ist man des Italienischen nicht mächtig (auf YouTube kann man sich | |
| diese Variante in gar nicht allzu schlechter Qualität beschauen) und möchte | |
| legale Wege ungern verlassen, braucht es schon einen iTunes-Account, | |
| lokalisiert in Botswana, wo man sich „The Scent of the Night“ wohl legal | |
| leihen kann. | |
| Fast noch nebulöser verhält es sich übrigens mit einem angeblich vierten | |
| Spielfilm Caligaris namens „Anni rapaci“ (2005), von dem deutsche Quellen | |
| zu wissen meinen, er sei in nur wenigen Kinos gelaufen, während der Rest | |
| der Welt nie etwas von ihm gehört hat. Immerhin räumte Caligari in einem | |
| Interview aus dem Jahr 2014 ein, „Anni rapaci“ nie vollendet zu haben. Auch | |
| seine dokumentarischen Arbeiten, vornehmlich aus den Siebzigern, enthalten | |
| sich eines einfachen Zugangs, obschon man munkelt, das Berliner Arsenal | |
| besäße eine 16mm-Kopie von „La follia della rivoluzione“ (1977). | |
| ## Anarchisches Werk | |
| Claudio Caligaris Werk hat etwas Anarchisches, das sich auf die Seite der | |
| Geschundenen schlägt, ohne moralisch auf sie einwirken oder sie aus der | |
| Verantwortung entlassen zu wollen. Offenkundig verbindet ihn ein zärtliches | |
| Band mit ihnen und offenkundig sind es auch ähnliche Typen, mit denen er | |
| sich für seine Filme einlässt. Dennoch sind auch sie dem Wandel der Zeit | |
| unterworfen, was Caligari unter der Berücksichtigung einiger flexibler | |
| Konstanten untersucht: Drogenkonsum, Verhältnis zur Rechtsnorm und zum | |
| Monetären. | |
| So liest sich ein Regiekommentar zu „Non essere cattivo“ sehr | |
| aufschlussreich, wenn Caligari von den 90er Jahren in Italien sagt, dass | |
| dies der Moment gewesen sei, an dem die Welt Pasolinis mitsamt seinen | |
| Strichern (den „Ragazzi di vita“) verschwand: „Die Jungen aus meinem | |
| Erstlingsfilm ‚Amore tossico‘ waren auf eine gewisse Weise voller Unschuld, | |
| sie stahlen, um sich mit Drogen betäuben zu können. Den Reichen etwas | |
| wegzunehmen, war für sie ein Weg, um die soziale Ungerechtigkeit | |
| auszugleichen.“ | |
| Es ist bezeichnend, dass Caligari mit einem Film wie „L’odore della notte�… | |
| gedreht in jenen Jahren des Umbruchs, den narrativen Rückschritt in die | |
| späten Siebziger wählte, um die Geschichte eines psychopathischen Robin | |
| Hood zu erzählen. Dennoch bestätigt Caligari daran anschließend auch den | |
| Verdacht, dass es sich bei allen Geschöpfen im Zentrum seiner Filme doch | |
| auch immer um „Pasolinis Jungen“ handelt: „Cesare und Vittorio verkörpern | |
| eine neue Generation. Heute stiehlt man nicht mehr, um irgendwie | |
| durchzukommen, sondern um das schnelle Geld zu machen, Luxusgüter zu | |
| kaufen, Rolex, schnelle Autos, Markenschuhe. Pasolinis Jungen sind nun Teil | |
| des organisierten Verbrechens und haben dabei die bürgerlichen | |
| Wertvorstellungen von Geld und Konsum übernommen.“ | |
| Eine derartige Übernahme ist nicht ungefährlich, zumal sie sich an Grenzen | |
| orientiert, die unglaublich dehnbar sind: Wann ist es genug, wenn es immer | |
| noch mehr geben kann? Es ist diese Art von Verschiebung, die das Drama von | |
| „Non essere cattivo“ ausmacht und das umso offensichtlicher wird, nachdem | |
| sich die beiden Freunde Cesare und Vittorio für unterschiedliche Richtungen | |
| „entschieden“ haben: Cesare, der extrovertiertere von beiden, der gemeinsam | |
| mit seiner Mutter und seiner aidskranken Nichte in einem Haus lebt, | |
| verfällt den Drogen auf viel umfassendere Weise als Vittorio, der nach | |
| einem Horrortrip (Olivenöl in einer Pfanne verwandelt sich in eine | |
| Personifikation des Teufels) eine Lehre zu ziehen weiß. | |
| Cesare verhangelt sich derweil in der Dynamik aus Sucht und Gewinnstreben. | |
| Zunächst geht es um Medikamente für das kranke Mädchen, später auch um die | |
| Sanierung eines alten Hauses mit Vittorios Exfreundin Viviana, gespielt von | |
| Silvia D’Amico. Der aufgekratzte Eurodance-Soundtrack – La Bouches „Be My | |
| Lover“, eingenommen mit einer Flasche Limoncello, ein Schlüsselstück des | |
| Films – wird nach und nach von einem den Abgrund ankündigenden Crimejazz | |
| abgelöst. | |
| 5 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Carolin Weidner | |
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