# taz.de -- „Nymph()maniac“ auf der Berlinale: Mea maxima vulva | |
> Lars von Triers „Nymph()maniac Volume 1“ wird in der Langfassung auf der | |
> Berlinale gezeigt. Ein erstaunlicher, beweglicher und unzeitgemäßer Film. | |
Bild: Joes (Charlotte Gainsbourg) Lust ist unstillbar. Trotz expliziter Sexszen… | |
„Mea vulva“, skandieren die jungen Frauen in einer frühen Szene von | |
„Nymph()maniac Volume 1“, „mea maxima vulva“. Es ist als Hymne auf ihre | |
Lust gedacht, als Loblied auf die Promiskuität, als Absage an Liebe, | |
Zweisamkeit und Romantik. Aber es ist auch ein Vorschein auf Scham und | |
Schuldgefühle. Mea maxima vulva, mea maxima culpa. | |
Als „Nymph()maniac“ einsetzt, liegt Joe (Charlotte Gainsbourg), eine Frau | |
Mitte 40, in einem Hinterhof, verletzt und entkräftet. Ein Fremder namens | |
Seligman (Stellan Skarsgard) nimmt sie mit zu sich, überlässt ihr ein | |
schmales Bett und einen Pyjama. Züchtig sitzt er neben ihr, reicht ihr Tee | |
und schenkt ihr ein offenes Ohr. | |
Sie erzählt ihm Episoden aus ihrem Leben, und in außergewöhnlich | |
einfallsreichen Rückblenden setzt Lars von Trier dieses Leben in Szene. | |
Stacy Martin gibt die junge Joe. Die Anordnung ist – auch jenseits der | |
Aufteilung in eine Rahmenhandlung, die Binnenerzählungen Joes und Seligmans | |
Abschweifungen – verschachtelt: Der Film hat zwei Teile, von beiden gibt es | |
je eine kürzere und eine längere, sexuell explizitere Version; die | |
Langfassung des ersten Teils erlebte am Sonntag auf der Berlinale ihre | |
Weltpremiere, die um 27 Minuten kürzere Fassung kommt am 20. Februar ins | |
Kino. | |
Die Aufteilung in zwei Teile ergibt wenig Sinn, insofern die beiden Hälften | |
aufeinander angewiesen sind; sie ist wohl weniger inhaltlichen Erwägungen | |
denn dem Umstand geschuldet, dass Kinobetreiber ungern vier Stunden | |
dauernde Filme programmieren. Die einzelnen Teile wiederum gliedern sich in | |
fünf bzw. drei Kapitel, die je freudvoll mit Formen und Assoziationen | |
spielen. | |
Da gibt es Archivmaterial und Anekdoten aus den Zeiten der Russischen | |
Revolution, Bilder, die aussehen, als hätte der Kinopionier Eadweard | |
Muybridge sie angefertigt, oder ein Kapitel in Schwarz-Weiß. Etwas fehlt | |
dabei zum Glück: das Pompöse, Monumentale, das Lars von Triers vergangene | |
Filme „Antichrist“ oder „Melancholia“ bisweilen durchwehte. | |
## Meister der unterschwelligen Aggressivität | |
Ein Beispiel für die Formenvielfalt: Im dritten Kapitel des ersten Teils – | |
es heißt „Mrs. H“ – möchte einer der vielen Liebhaber Joes, Mr H, seine | |
Ehefrau für Joe verlassen. Die Betrogene (Uma Thurman) tritt auf den Plan, | |
die drei Söhne bringt sie mit. Eine großartige Szene: Sie beharrt darauf, | |
den Kindern das „Lotterbett“ zu zeigen. „The whoring bed“, fordert sie, | |
„they have the right to see the whoring bed.“ | |
Der Kameramann Manuel Alberto Claro fängt das passiv-aggressive Verhalten | |
mit fluiden Bewegungen ein. Lars von Trier treibt die unterschwellige | |
Aggressivität so auf die Spitze, dass sie ins Komödiantische umschlägt. Es | |
ist nicht der einzige Moment von „Nymph()maniac“, in dem der dänische | |
Regisseur zeigt, wie viele Register der Inszenierung ihm zur Verfügung | |
stehen. | |
Ein anderes Mal fährt die junge Joe mit einer Freundin Zug. Die beiden | |
wetteifern miteinander. Wer mehr Passagiere verführt, gewinnt eine Tüte | |
Süßigkeiten. Joe trägt rote Lack-Hotpants. Als die Kamera auf ihren Hintern | |
blickt, wird im Off „Born to be wild“ angespielt. | |
Ein Fahrgast in der ersten Klasse wehrt sich gegen die Aufforderung zum | |
Sex, er erzählt, er eile zu seiner Frau, weil sie gerade ihren Eisprung | |
gehabt habe und die beiden sich nichts sehnlicher wünschten als ein Kind. | |
Noch 25 Jahre später macht sich Joe Vorwürfe: Was, wenn dieser Mann, zu | |
Hause angekommen, keine Erektion mehr zustande gebracht hat? Wenn sie die | |
Schuld daran trägt, dass ihm und seiner Frau das Kind verwehrt blieb? | |
## Joes Selbstbezichtigungen | |
Seligman aber überzeugen Joes Selbstbezichtigungen nicht. Er ist voller | |
Verständnis, während sie sich ihrer Unersättlichkeit wegen verachtet, er | |
verwirft die Moralbegriffe, mit denen sie sich quält. In manchen | |
Augenblicken nimmt dieser gütige Fremde beinahe die Rolle eines Therapeuten | |
ein, alles lässt er gelten, nichts verurteilt er. | |
Dann gibt er einen alt gewordenen Nerd – früher sagte man wohl: | |
Universalgelehrten –; zu jeder Episode, die Joe ihm offenbart, kann er | |
etwas extemporieren, sei es zu Johann Sebastian Bachs Konzept der | |
Polyphonie, sei es zum Nymphenstadium mancher Insektenarten, zum | |
Fliegenfischen oder zu Edgar Allan Poe. In solchen Augenblicken verhalten | |
sich Joe und Seligmann wie zwei Spiegel: Wo sie zwanghaft Sex hat, häuft er | |
zwanghaft Weltwissen an. Ihre Erzählungen wetteifern miteinander. | |
Das Schöne an „Nymph()maniac“ ist, dass niemals ganz klar wird, auf wessen | |
Seite sich der Film schlägt, ob ihm mehr an Joes düsterem Selbstbild oder | |
an Seligmans Rationalisierungen liegt. „Nymph()maniac“ ist so beweglich wie | |
die Fische, die den Köder des Anglers verschmähen. | |
Und er ist erstaunlich aus vielen Gründen – zum Beispiel, weil dieser erste | |
Teil, obwohl es immer wieder um Joes Schuldgefühle geht, einen heiteren Ton | |
anschlägt und zugleich vollkommen aufrichtig erforscht, was die | |
Protagonistin an- und umtreibt. „Nymph()maniac“ ist eine durch und durch | |
ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit Sexualität. | |
## Doch noch nicht alles über Sex gesagt | |
Darin mag auf den ersten Blick etwas Unzeitgemäßes liegen. Ist nicht alles | |
geklärt auf diesem Feld? Kann nicht jeder machen, was er will, solange der | |
Partner einverstanden ist? Blickt man heute nicht beinahe so auf Sex, als | |
wäre er Yoga: eine gesunde Sache, die einen fit für die Anforderungen | |
spätkapitalistischer Berufsausübung macht? Was will Lars von Trier dann | |
noch mit Georges Bataille? | |
Dem Zeitgemäßen ist Lars von Trier nicht besonders zugeneigt, und im Fall | |
von „Nymph()maniac“ ist das ein Glück, weil so ein Drama zur | |
Wiederaufführung kommt, das eben doch noch nicht zu Ende ist. Und die | |
Explizitheit? Macht einen erstaunlicherweise nie zum Voyeur. Stattdessen | |
erkennt man auch und gerade in den pornografischen Bildern eine besondere | |
Schönheit. Warum auch sollte das Close-Up einer Zunge an einer Klitoris | |
nichts Schönes haben? | |
9 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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