# taz.de -- Erster Teil „Nymph()maniac“: Die vielen Gesichter der Lust | |
> „Nymph()maniac“ ist der bisher zärtlichste Film von Lars von Trier – | |
> obwohl der Regisseur weiter der Spur von Getriebenen und Selbstzerstörern | |
> folgt. | |
Bild: Erst bringt Seligman (Stellan Skarsgård) eine Tasse Tee ans Bett von Joe… | |
Wie ein schnüffelndes Tier, stets in Sorge, die Fährte zu verlieren, so | |
führt uns die Kamera durch ein dunkles und niedriges Labyrinth aus Gängen | |
und Gewölben, um uns schließlich auf eine leblose Gestalt zu stoßen, die im | |
letzten Winkel, einem Verlies gleich, verlassen daliegt. Eine andere | |
Gestalt verlässt die Wohnung und macht ihre spärlichen Einkäufe. Auf dem | |
Rückweg begleiten wir sie durch dieselben Gemäuer, wo jeder Mensch geduckt | |
geht, als würde der inquisitorische Geist mittelalterlicher Gnadenlosigkeit | |
noch heute ungebrochen lasten. | |
Lars von Trier lässt mit diesem Einstieg keine Zweifel aufkommen: Er wird | |
ins Tiefste gehen, sicher auch ins Höchste, und – wie schon der Titel | |
„Nymph()maniac“ verheißt – er wird sich einer der Kräfte annehmen, die | |
Menschen zu Getriebenen macht, die Kontrolle verlieren lässt, ausweglos, | |
schutzlos, verletzt und hingeworfen wie eine erlegte Beute, niedergestreckt | |
von den eigenen Kräften. | |
Von Trier hat sich in seinen Filmen für alle Formen der Selbstzerstörung | |
interessiert, für das Abgründige und Unergründbare, er hat sich der | |
Depression gewidmet, dem Bösen, der Aufopferung, dem Schmerz angesichts des | |
Todes, dem Tod selbst und immer wieder der Sexualität. Es sind Befragungen, | |
die er mit seinen großen Motiven in jedem Film vornimmt, und er spannt sie | |
meist auf noch größere Koordinaten: aufs Religiöse, Göttliche, Teuflische, | |
Moralische, und aufs Kosmische – bis ins All hinaus spannt er die | |
menschlichen Fragen. | |
Dieses Mal ist es also die Lust, die stets noch mehr verheißt. | |
Die Gestalt, die mit dem Einkauf in ihre Wohnung zurückwill, erweist sich | |
als älterer Junggeselle namens Seligman (Stellan Skarsgård), der sich zu | |
dem leblos wirkenden Körper herunterbeugt. Joe (Charlotte Gainsbourg) | |
öffnet langsam die Augen. Schon mit dem ersten Dialog zwischen den beiden | |
ahnt man, dass große Fragen nicht kleiner werden, wenn sich schräge | |
Antworten dazu finden. | |
## Kein Interesse am Urteil | |
Seligman hilft ihr auf, bringt sie zu sich in die Wohnung, lässt sie in | |
einen Pyjama schlüpfen und dann ins Bett. Nachdem er ihr einen Tee gebracht | |
hat, beginnt ihr Sprechen darüber, wie unermüdlich sie nach Sex suchte und | |
wie sie dabei eine ganze Armee an Opfern und Verletzten produzierte. Joes | |
Sprechen ist ruhig und entschieden, sie sucht nicht nach Erklärungen, auch | |
nicht nach einer Absolution, ihr Sprechen ist keine Beichte, die ihr | |
Seligman abnehmen könnte. Joe selbst ist ihr eigener Richter, hart, fast | |
inquisitorisch, und sie kennt ihr Urteil; Joe will sich richten. Doch | |
Seligman will ihr den Gefallen nicht tun. | |
Er ist ein aufmerksamer Zuhörer, der nicht am Urteilen interessiert ist, | |
sondern am Phänomen selbst – und vor allem an den Ähnlichkeiten, die er zum | |
Beispiel als Fliegenfischer in Bezug auf seine Fische erkennt. So verzahnt | |
sich ein Sprechen über die Verwerflichkeiten einer Nymphomanin mit den | |
Beobachtungen und Erkenntnissen eines Fliegenfischers. | |
## Ordnung der Zahlen | |
Joe hält an ihrer Verwerflichkeit fest, doch neigt sie in einer Mischung | |
aus Eigensinn und Nüchternheit dazu, über das Geschehene gewisse Ordnungen | |
anzulegen: Den ersten Sex, den sie als Teenager von einem etwas älteren | |
Jungen erbittet, erinnert sie über die Anzahl der Stöße in sie hinein. | |
Während Joe sich in trockener Brutalität entjungfern lässt, stehen die | |
Zahlen vor uns im Bild; wir haben die Möglichkeit, uns das Geschehen | |
anzutun oder uns an den Zahlen festzuhalten. | |
Ein reiches, bewegliches Gefüge stellt sich ein: ein Dialog, der keinen | |
Konsens ergeben kann, dafür aber voller schiefer Überraschungen ist, mit | |
Rückblenden dessen, was Joe erzählt und erinnert (die junge Joe wird von | |
Stacy Martin gegeben), und mit den Assoziationen des grüblerischen | |
Fliegenfischers, der alles aufmerksam verfolgt und frei verbindet. Das | |
Gefüge scheint dem musikalischen Prinzip der Vielstimmigkeit zu folgen, das | |
Seligman anhand von Bachs Chorälen beschreibt, als Joe gerade versucht, in | |
drei unterschiedlichen Liebhabern eine eigene Logik auszumachen. | |
In all der Vielstimmigkeit ergibt sich doch so etwas wie ein harmonisches | |
Ganzes – oder, bezogen auf den Film, eine komplexe Sache. | |
Lars von Trier hält sich zurück mit Aussagen über diese exzessive Art von | |
Sexualität, auch spannt er keine brachialen Thesen über sie; er lässt die | |
Lust Lust sein, und die zeigt uns dafür ihre vielen Gesichter. Die Lust | |
scheint alles, was Joe hat, und auch wenn dies das Traurige ist, sie gibt | |
ihr auch alles, was möglich ist. Noch trauriger ist es, wenn diese Lust | |
plötzlich aufhört. Doch davon erzählt der zweite Teil von „Nymph()maniac�… | |
der Anfang April ins Kino kommt. | |
## Der Schock des Todes | |
Ähnlich verhält es sich mit den Erklärungen darüber, woher eine solch | |
ausgeprägte Lust kommen mag. Trier bietet Anhaltspunkte, die gefühlskalte | |
Mutter, der frühe Tod des geliebten Vaters. Angesichts der Schockstarre, in | |
die diese Sterbeszene einen versetzt, mag es naheliegen, auch Joe in dieser | |
Starre zu vermuten, die allein ihre Sexgier aufzubrechen vermag. | |
Doch neben den vielen Gesichtern der Lust ist es Joe selbst, die eine | |
einfache Erklärung ausschließt. Joe ist keine Kranke, wenn auch verletzt, | |
das Bett ist zwar ein Krankenbett, doch sorgt es für ein Innehalten, ein | |
Erzählen. Sie ist jene, die spricht und fragt, ihr persönlicher Blick, | |
ebenso wie der von Seligman, bestimmen die Geschichte. | |
Von Trier hat den Figuren und den Darstellern den Vortritt gelassen und | |
sich zurückgehalten, wo er in anderen Filmen dazu neigte, seine Figuren vor | |
seine Thesen zu spannen. Dieses Kleinerwerden macht den Film umso größer, | |
es ist Triers zärtlichster. | |
20 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Maxi Obexer | |
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