# taz.de -- Lars von Triers Nymph()maniac Vol. 2: Sexsüchtig, nicht nymphoman | |
> Sexualität ist Selbstbehauptung wie Selbstaufgabe: In Joe, der | |
> Protagonistin von Lars von Triers „Nymph()maniac Vol. 2“, streiten beide | |
> miteinander. | |
Bild: Warum hat Joe Schuldgefühle? Wäre Joe ein Mann, kein Mensch – sie sel… | |
Was bisher geschah: Einer jungen Frau namens Joe (Stacy Martin) ist es | |
zuwider, ihre Lust zu zügeln und monogam zu leben. Mit Haut und Haar widmet | |
sie sich der sexuellen Ausschweifung. Während einer Zugfahrt reißt sie | |
mehrere Männer auf, dabei trägt sie Kleidungsstücke, die sie treffend „fuck | |
me now clothes“ nennt. | |
Wenn es ihr gelingt, einem braven Ehemann im Erste-Klasse-Abteil gegen | |
dessen anfänglichen Widerstand einen Blowjob zu verpassen, freut es sie | |
besonders. Nacht für Nacht empfängt sie mehr als ein halbes Dutzend | |
Liebhaber. Sorgfältig ersinnt sie eine Taktung, damit die Männer nicht | |
übereinander stolpern. | |
Von alldem erzählt sie etwa 25 Jahre später, nun von Charlotte Gainsbourg | |
verkörpert, einem älteren Mann namens Seligman (Stellan Skarsgård). Als | |
sich die junge Joe am Ende von „Nymph()maniac Vol. 1“ schließlich in einen | |
Mann namens Jérôme (Shia LeBoeuf) verliebt, bleibt ihr eines Nachts die | |
Lust versagt: „Ich spüre nichts mehr“, entfährt es ihr. Einen grausameren | |
Cliffhanger hätte sich Lars von Trier nicht ausdenken können. | |
Wie die Erzählungen von Joe weitergehen und ob sie zu ihrer Lust | |
zurückfindet, das erfährt man im zweiten Teil von „Nymph()maniac“, der | |
heute in den deutschen Kinos anläuft. Wer nun denkt, es erwarte ihn ein | |
skandalträchtiger, unter Einsatz von Bodydoubles und | |
Geschlechtsteilprothesen ins Pornografische gewendeter Film, der hat sich | |
von der aufdringlichen Marketing-Kampagne an der Nase herumführen lassen. | |
## Buchhalterische SM-Handlungen | |
Denn „Nymph()maniac“ setzt Sexualität auf eine eher unspektakuläre, oft i… | |
Komödiantische hinüberstreunende Weise in Szene. Dort etwa, wo | |
sadomasochistische Handlungen stattfinden, geht es auffällig buchhalterisch | |
zu. Hinzu kommt, dass sich der Film aus mindestens zwei Antriebskräften | |
speist: Die körperliche Verausgabung Joes ist ein Motor, aber eine ebenso | |
große Rolle spielen die diskursiven und narrativen Verausgabungen. | |
Sexualität, das weiß Lars von Trier, ist nicht das dunkle Gegenüber des | |
Diskurses, sie ist selbst Diskurs. | |
Und so ist „Nymph()maniac“ vor allem eine Feier des Diskurses, eine | |
selbstreferenzielle und selbstreflexive Tour de Force durch die | |
Kulturgeschichte, in der das Zenonische Paradox von der Schildkröte, die | |
der schnelle Achill partout nicht überholen kann, ebenso einen Platz findet | |
wie die Hure Babylon, die römische Nymphomanin Valeria Messalina und die | |
geisterhafte Gabe der Elevation. Nicht zu vergessen das Bergsteigerdrama, | |
das mit einer Bondage-Knotentechnik assoziiert wird, oder das Schisma des | |
Jahres 1054, seit dem die katholische und die orthodoxe Kirche getrennte | |
Wege gehen. | |
Leider gibt es auch rassistische Ausfälle. Zwei Sequenzen erwecken den | |
Eindruck, das Rumpelstilzchen, das in Lars von Trier wohnt, habe die | |
Überhand gewonnen und beharre nun auf dem vorgeblichen Recht, „Neger“ sagen | |
zu dürfen. | |
Anderes ist höherer Quatsch, wieder anderes wird vom Film zunächst gesetzt | |
und dann ausgestrichen: „Das war Ihre schwächste Abschweifung“, wirft Joe | |
Seligman einmal vor, nachdem er mal wieder zu lange extemporiert hatte. | |
## Blutende Klitoris | |
Wieder anderes dringt in die Motivkapillaren des Films vor, zum Beispiel | |
die Kirchenspaltung. Das erste Kapitel des zweiten Teils ist mit „The | |
Eastern and the Western Church. The Silent Duck“ überschrieben, was sich | |
als Gestaltungsprinzip begreifen lässt: Der erste Teil mit seinen fünf | |
Kapiteln entsprach der heiteren, fröhlichen Seite, die Seligman der | |
orthodoxen Kirche zuschreibt, die drei Kapitel des zweiten Teils sind eher | |
dem Leiden zugeordnet, das Seligman mit der römisch-katholischen Kirche | |
verbindet: Es geht um Sadomasochismus, in einer schmerzlichen Sequenz um | |
Pädophilie, schließlich um eine Klitoris, die blutet wie die Wundmale in | |
den Handflächen Jesu. | |
Wer den ersten Teil von „Nymph()maniac“ gesehen hat, der kennt die Rechnung | |
fünf plus drei; sie reinszeniert, was Joe bei ihrer Entjungferung – | |
verzeihen Sie das Wortspiel – zustößt. Und sie wird noch einmal, viel | |
später, wiederholt, wenn Jérôme und eine Figur namens P (Mia Goth) in einem | |
Hinterhof Sex haben. | |
Der Wiederholungszwang, an dem Joe leidet, hallt in Lars von Triers eigenen | |
Wiederholungszwängen nach – etwa wenn der Regisseur eine Szene aus | |
„Antichrist“, das in Schwarzweiß gehaltene Präludium, in dessen Verlauf e… | |
Kleinkind aus dem Fenster stürzt, in „Nymph()maniac“ leicht variiert | |
wiederholt. | |
Wenn dieser mäandernde Film überhaupt so etwas wie ein Zentrum hat, dann | |
ist es sicherlich die Frage nach Zwang und Freiheit und dem dialektischen | |
Verhältnis von beidem. Auf den ersten Blick ist das, was sich Joe | |
herausnimmt, nämlich als Frau einen eigenen Platz im Reich der Sinne zu | |
beanspruchen, seit der sexuellen Revolution und der zweiten Frauenbewegung | |
eine Selbstverständlichkeit. Warum bloß quält sie sich dann so? Warum | |
leidet sie an Schuldgefühlen? Ihr Gegenüber, Seligman, spricht es am Ende | |
sogar aus: Wäre Joe ein Mann, kein Mensch – sie selbst am wenigsten – hät… | |
sich an ihrem Verhalten gestört. | |
## Der blinde Fleck | |
Vielleicht ist es aber gar nicht so einfach und klar, vielleicht bleibt | |
eine nicht zu stillende Unruhe, und daran haben weder das Vordringen der | |
Pornografie ins Arthouse-Kino etwas geändert, an der Lars von Trier selbst | |
teilhatte, indem er 1998 in „Idioten“ echten Sex filmte, noch das Aufkommen | |
des Internets mit der dazugehörigen Präsenz expliziter Bilder noch die | |
Entzauberung der Sexualität durch Dating-Portale, durch die eine sexuelle | |
Begegnung ähnlich leicht zu haben ist wie eine Stunde | |
Wirbelsäulengymnastik, sodass die eine von der anderen Reproduktionsarbeit | |
kaum noch zu unterscheiden ist. | |
Vielleicht ist da noch etwas anderes, ein Residuum, das daher rührt, dass | |
die aufgeklärte Gegenwart den einen oder anderen blinden Fleck hat. Die | |
Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen hat es einmal so formuliert: | |
„Die Anforderung, die unsere Sexualität an uns stellt, besteht darin, dass | |
wir sowohl bemächtigt wie auch ohnmächtig sind, ebenso von einem auf | |
Selbsterhaltung gerichteten Lustprinzip geleitet wie von einem Drang nach | |
Selbstverschwendung.“ Sexualität hat etwas mit Lust zu tun, aber auch mit | |
Selbstverlust, sie ist zu gleichen Teilen Selbstbehauptung wie | |
Selbstaufgabe. In Joe streitet beides miteinander, ohne je Ruhe zu geben. | |
Das geschieht zum Beispiel so: Im mittleren Kapitel des Films – es ist mit | |
„The Mirror“ überschrieben – geht Joe zu einer Selbsthilfegruppe, um ihre | |
Fixierung auf Sex zu überwinden. Ein halbes Dutzend Frauen treffen sich in | |
einer Mehrzweckhalle, der wie so vielen Räumen in „Nymph()maniac“ etwas | |
Nüchternes und Zeitloses eignet. Die Frauen sitzen im Stuhlkreis, Joe sagt: | |
„Mein Name ist Joe, und ich bin Nymphomanin.“ Ohne Umschweife wird sie | |
korrigiert: „Sexsüchtig. Wir nennen es ’sexsüchtig‘.“ | |
Eine Sprechweise, die das Anstößige und einen Überrest des 19. Jahrhunderts | |
in sich bewahrt, wird in diesem Augenblick mit einer Sprechweise | |
konfrontiert, die das Anstößige in einen therapeutischen Diskurs überführt, | |
es dadurch einfängt und kontrollierbar macht. Es dauert nicht lange, bis | |
Joe den geduckt dasitzenden Frauen entgegenschleudert: „Ich liebe meine | |
Möse. Und ich liebe meine dreckige, schmutzige Lust.“ | |
## Nur ein vorläufiges Ende | |
Aber auch das ist nicht der letzte Satz des Films, nicht der Fluchtpunkt, | |
im Gegenteil, man kann sich sicher sein, dass mit dieser stolzen Geste der | |
Selbstbehauptung kein Problem gelöst ist. Was uns im Publikum nicht weiter | |
stören muss, sorgt doch die Nichtaufhebbarkeit von Joes Leiden für ein | |
Immer-weiter der Erzählung, die mit der Schwarzblende am Schluss nur zu | |
einem vorläufigen Ende kommt. Unter anderem, weil es noch eine Langfassung | |
von „Nymp()maniac Vol. 2“ gibt, die irgendwann, spätestens mit der | |
DVD-Edition, zu sehen sein wird. | |
Lars von Triers Motoren laufen also weiter. Und ganz anders als in | |
gewöhnlicher Pornografie, deren Ziel im immer gleichen Cumshot besteht, | |
schenkt uns das einen wunderbar polymorphen Film. | |
2 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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