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# taz.de -- Neues Album von Charlotte Gainsbourg: Radikale Trauer
> Charlotte Gainsbourg singt jetzt wieder auf französisch. Herausgekommen
> ist ein schönes, morbides Album. Ein Treffen mit der Sängerin in Berlin.
Bild: Auf der Suche nach Gegensätzen: Charlotte Gainsbourg
Neben dem energisch durch den Flur schreitenden Mitarbeiter der
Plattenfirma wirkt die Frau mit der teuren Jeansjacke und der schwarzen
Stoffhose zierlich. Charlotte Gainsbourg sieht so aus, wie man sie sich
vorgestellt hat: schmal, fast zerbrechlich. Das charaktervolle Gesicht, das
etwas älter wirkt als in ihren Filmen, dennoch mädchenhaft. Ein sanftes
Lächeln, ein kraftloser Händedruck, dann bugsiert sie ihr vasengroßes
Grünteeglas in das Hotelzimmer. Wuchtige Möbel, zugezogene Vorhänge.
Gainsbourg ist in Berlin, um über ihr neues Album zu sprechen, das erste
seit acht Jahren und das erste, auf dem sie vorwiegend auf Französisch
singt.
Als Schauspielerin ist sie bekannter, schon als Teenager stand sie vor der
Kamera und hatte tragende Rollen, etwa in Michel Gondrys „The Science of
Sleep“ und Todd Haynes’ „I’m not there“. Musikaufnahmen gibt es deutl…
weniger von Charlotte Gainsbourg: „Rest“ ist erst das vierte Album der
46-Jährigen. Großen Anteil an dieser Doppelkarriere hatte ihr Vater, der
1991 gestorbene Chansonnier, Schauspieler und Regisseur Serge Gainsbourg.
Ein französisches Nationalheiligtum.
„Für viele war er ein Gott. Nach dem Tod meines Vaters kamen alle zu mir
und erzählten mir von ihrer Trauer. Aber niemand verstand, wie ich mich
fühlte.“ Charlotte Gainsbourg starrt in ihre Grünteevase. „Also hörte er
für mich auf zu existieren. Ich erwähnte seinen Namen nie und weigerte
mich, seine Musik anzuhören. Das war meine Form von Trauerarbeit. Bei
meiner Halbschwester Kate war das Gegenteil der Fall: Ich spürte, dass ich
den Dialog am Leben halten muss. Und das denke ich noch immer: Ich muss
über sie sprechen.“
Charlotte Gainsbourg wuchs in Paris mit der vier Jahre älteren
Halbschwester und Fotografin Kate Barry auf, die 2013 nach dem Sturz aus
einem Fenster starb. Ein Schock für Charlotte, die in der Folge mit ihrer
Familie nach New York zog, um Abstand zu gewinnen. Wie nach dem Tod ihres
Vaters versuchte die Künstlerin, allen französischen Bezügen zu entkommen
und komponierte Songs auf Englisch – um schließlich doch wieder beim
Französischen zu landen.
## Beim Videodreh führte sie selbst Regie
Und sie flog zurück nach Paris, um mit Guy-Manuel de Homem-Christo, einer
Hälfte des House-Duos Daft Punk, zu komponieren. „Ich hatte unfertige
Songs, aber wusste, wohin ich musikalisch wollte“, sagt Gainsbourg mit
leiser, umso festerer Stimme. „Ich kam also mit Skizzen, endlosen
Tagebucheinträgen und losen Ideen zu Guy-Manuel. Er brachte mich dazu,
alles stark zu reduzieren, und entwickelte für den ersten Song einen
simplen Loop.“
Das Resultat sollte dem Album seinen Namen geben: der ultramelancholische,
von einem glockenhellen Synthesizer dominierte Song „Rest“. Ein
doppeldeutiger Titel, der sich auf die Grabsteininschrift „Rest in Peace“
und das französische Wort für „bleiben“ bezieht. „Reste avec moi s’il…
plaît“ fleht die Sängerin, charakteristisch chansonesk wispernd. Sie
wiederholt die Absicht, jemanden zu küssen, zu berühren und schließlich
vergessen zu wollen. Den Videoclip zum Song hat Gainsbourg in Eigenregie
realisiert, eine rätselhafte Collage mit Ausschnitten aus
Schwarz-Weiß-Filmen: eine weinende Frau, emporsteigende Luftballons, eine
Hand, die an einer Fensterscheibe hinabgleitet. Ein zärtlicher Schwof mit
dem Tod; die assoziative Verfilmung des Traumes, einen geliebten Menschen
zu besitzen und gleichzeitig loszulassen.
Morbider noch das von düster tuckernden Beats getriebene „Lying With You“:
eine reifere Fortführung des 1984er Skandalsongs „Lemon Incest“, in dem die
damals 13-jährige Charlotte von der Unmöglichkeit des Liebesakts zwischen
Vater und Tochter sang; produziert von Serge Gainsbourg, der damit bewusst
einen Skandal inszenierte und gleichzeitig einen seiner vielen Hits schuf.
In „Lying With You“ singt die Protagonistin davon, sich zu einem Toten aufs
Bett zu legen, stets als devote Verehrerin: „My mouth is whispering in
raptures/Celebrating you“.
Angesichts derart radikaler Trauerarbeit tun die wallenden Synthieflächen,
euphorisierenden Streicher und satten Disco-Beats von „Sylvia Says“ gut.
Trotz schwermütiger Lyrics auch hier, Gainsbourg adaptierte für den
Songtext Zeilen der früh durch Suizid gestorbenen US-Autorin Sylvia Plath.
„Mir war es wichtig, meine Texte mit Musik auszubalancieren, die mit dieser
Traurigkeit nichts zu tun hatte“, sagt die Sängerin. „Ich suche stets nach
Gegensätzen, nur so finde ich innere Balance. Es ergibt beispielsweise
überhaupt keinen Sinn, dass ich Schauspielerin bin, und privat total
schüchtern. Aber es ist so.“
Und noch ein Widerspruch der Gainsbourg: Sie verliert kein schlechtes Wort
über ihren Vater und ihre Mutter, die britische Schauspielerin Jane Birkin.
Auch nicht darüber, dass die beiden sich mehr für die Freuden des
Nachtlebens als das Wohlergehen ihrer Tochter interessierten. „Es war eine
andere Zeit. Aber ich freue mich für meine Eltern, dass sie sich ausleben
konnten – sie waren ein sehr besonderes Paar. Ich hätte es nicht anders
haben wollen.“ Ein professionelles Lächeln zum Schluss, sie steht auf, der
Fotograf braucht sie am Fenster. Die Vorhänge bleiben zugezogen.
17 Nov 2017
## AUTOREN
Jan Paersch
## TAGS
Charlotte Gainsbourg
Musik
Spielfilm
Jane Birkin
Schwerpunkt Angela Merkel
Lars von Trier
Charlotte Gainsbourg
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