# taz.de -- Kinostart „Boyhood“: Die Zeit ist auf seiner Seite | |
> Richard Linklater hat für seinen Spielfilm „Boyhood“ zwölf Jahre | |
> Langzeitbeobachtung auf drei Stunden konzentriert – ein einzigartiges | |
> Coming of Age. | |
Bild: Das Wunderkind: Ellar Coltrane spielte zwölf Jahre bei Richard Linklater… | |
Der Film „Lone Star State of Mind“ aus dem Jahr 2002 zählt nicht gerade zu | |
den Höhepunkten dieser Kunst. Auf Deutsch heißt er „Cowboys und Idioten“, | |
was eine polemische, aber auch nicht vollkommen abwegige Charakterisierung | |
des Staates Texas darstellt. | |
Vielleicht wird man sich später einmal an „Lone Star State of Mind“ vor | |
allem aus einem Grund erinnern: In einer kleinen Rolle trat darin ein Junge | |
namens Ellar Coltrane auf. Er war damals noch keine acht Jahre alt, und | |
begann ungefähr zur selben Zeit mit einem höchst ungewöhnliche Experiment. | |
Er spielte die Hauptrolle in einem Film von Richard Linklater, der erst | |
viele Jahre später fertig werden sollte. | |
In „Boyhood“ geht es darum, das Heranwachsen eines Jungen zu zeigen: von | |
dem Zeitpunkt, in dem er mit der Schule beginnt, bis zu dem großen | |
Übergang, der mit dem Wechsel auf ein College und dem Verlassen der Familie | |
einhergeht. Linklater begann den Film mit einem Knirps, er beendete ihn mit | |
einem bemerkenswert souveränen jungen Mann. Das Experiment, das von vielen | |
Unwägbarkeiten geprägt gewesen sein muss, war aufgegangen. Im Februar | |
dieses Jahres hatte „Boyhood“ bei der Berlinale die Weltpremiere. Und die | |
Welt ist um einen einzigartigen Film reicher. | |
Wie der Titel schon klar macht, geht es um eine Lebensphase. In den fast | |
drei Stunden des Films wird das Interesse noch deutlicher: Das Leben eines | |
Jungen interessiert Linklater, weil er wissen möchte, wie jemand ein Mann | |
wird. Da dies nur in Gesellschaft möglich wird, sehen wir gleichzeitig, wie | |
noch eine ganze Reihe anderer Menschen etwas wird: Die Zeit verändert alle. | |
Das ist eine Binsenweisheit, aber man muss sich Zeit nehmen, um sie | |
nachvollziehbar zu machen. Und „Boyhood“ hat sich eben zwölf Jahre Zeit | |
genommen, um das in diesem Zeitpunkt entstandene Material dann auf die | |
Länge eines etwas längeren Spielfilms zu konzentrieren. | |
## Reales Leben und Fiktion | |
Der Junge, der im Zentrum steht, heißt Mason. Seine Mutter heißt Olivia, | |
sie wird gespielt von Patricia Arquette; sein Vater heißt auch Mason, der | |
Schauspieler ist Ethan Hawke. Seine Schwester heißt Samantha, im richtigen | |
Leben ist sie Lorelei Linklater, die älteste Tochter des Filmemachers. Das | |
eine und das andere Leben, das der Fiktion und das tatsächliche, | |
verschränken sich. Mason ist ein erfundener Junge, den Ellar Coltrane aber | |
mehr als nur spielt. Er verkörpert ihn gerade auch mit der allmählichen | |
Intensität der Veränderungen, die von den Jahren in den Leib und die Seele | |
eingeprägt werden. | |
Die Schönheit aller Langzeitbeobachtungen wird in „Boyhood“ umso | |
eindringlicher sichtbar, als die Schrecken außen vor bleiben. Der Schock, | |
der einen manchmal durchfährt, wenn Bilder die Veränderungen an einem | |
Menschen dokumentieren, bleibt hier aus, auch die (meisten) erwachsenen | |
Figuren schlagen sich wacker. Zugleich wird in „Boyhood“ etwas von dem viel | |
beschworenen Verschwinden der Kindheit sichtbar. Der Entwicklungsroman, das | |
Zusammenwachsen zu einer verantwortlichen Existenz, beginnt hier deutlich | |
früher als vor zweihundert Jahren bei Goethe. | |
Nicht, dass die Voraussetzungen von Mason ideal wären. Er ist ein | |
Scheidungskind. Olivia ist eine „Single Mom“, was nicht nur in Amerika | |
häufig als Eintrittskarte in ein prekäres Leben gesehen wird. Es ist eine | |
der großen Qualitäten von Linklaters Erzählung, wie er nebenbei die Rolle | |
der Mutter immer in der Balance zwischen desaströser Objektwahl und | |
unverdrossenem Neubeginn hält. Olivia ist ihren Kindern keineswegs | |
entscheidend voraus, sie sucht auch nach ihrem Leben, sie lernt immer noch | |
dazu (auch ganz buchstäblich, denn sie macht mit einiger Verspätung noch | |
eine wichtige Ausbildung). | |
Linklater ebnet so nebenbei den Unterschied zwischen Eltern und Kindern | |
ein, und kommentiert auf seine Weise eine wichtige Erfahrungstatsache der | |
jüngeren Zeit: dass nämlich seit den siebziger Jahren bedeutende Teile | |
einer ganzen Generation als Eltern versagt haben oder jedenfalls große | |
Probleme hatten, selbst erwachsen zu werden. | |
## Keine Zäsur | |
Davon gibt es zahllose Zeugnisse. In „Boyhood“ ist es Mason sen., der | |
anfangs weder als Autoritätsperson noch als großes Vorbild auftritt. Er | |
wächst mit seinem Sohn mit, im Lauf der Jahre wächst nicht nur der Junge, | |
es wächst eine Großfamilie zusammen. Und man kann sogar noch weitergehen | |
und den ganzen Staat Texas einbeziehen, dessen „Sohn“ Richard Linklater | |
ist, der aus der Universitätsstadt Austin stammt und dort 1989 mit | |
„Slacker“ debütierte, bis heute einer der wichtigsten Filme des | |
unabhängigen amerikanischen Kinos. | |
Linklater durchmisst in „Boyhood“ auch diesen konservativen amerikanischen | |
Staat, er zeigt einen Ausflug zu Leuten, die man wohl als „Rednecks“ | |
bezeichnen könnte, also als Vertreter einer rückschrittlichen Auffassung | |
individueller Wehrhaftigkeit. Er zeigt aber auch, wie Mason 2008 | |
Wahlplakate für Obama aufstellt. Die Zäsur von dem als Präsidenten so | |
erbärmlich ungeeigneten George W. Bush zu dem Intellektuellen Barack Obama | |
prägt den Film gerade auch deswegen, weil sie sich als keine Zäsur erwies. | |
Man könnte gegen „Boyhood“ vielleicht einwenden, dass ein zu großer | |
Optimismus die Fiktion prägt. Doch geht das nur, weil es sich dabei um eine | |
Rückkopplung der besonderen Art handelt. Es ist das Gelingen des | |
Filmprojekts selbst, das auf das Gelingen von Masons Jugend zurückwirkt. | |
Linklater traf sich im Lauf der Jahre immer jeweils nur für ein paar Tage | |
mit den Schauspielern, um die Geschichte weiterzuentwickeln. Er ging dabei | |
auch auf die Erfahrungen ein, die sie mitbrachten. In erster Linie | |
natürlich Ellar Coltrane, der für seine Rolle (die wirklich ganz und gar | |
und unvertretbar seine ist) mit den Jahren eine wichtige Eigenschaft | |
entwickelte, die eigentlich zu den Tugenden der späteren Lebensjahre | |
gerechnet wird: Gelassenheit. | |
## Das gelungene Leben | |
Wie Mason in wichtigen Gesprächen mit seinem Vater oder mit seiner ersten | |
großen Liebe, die ihn enttäuscht hat, seinen Schmerz nicht verbirgt, wie er | |
aber zugleich erkennen lässt, dass er „A Man of His Own“ geworden ist, das | |
wäre an sich nicht weiter von Belang (und würde in einem konventionellen | |
Erzählfilm nicht einmal sonderlich wahrgenommen werden). In „Boyhood“ aber | |
ist es die Quintessenz, und sie ist erarbeitet nach einem plausiblen | |
Prinzip: Dass ein gelungenes Leben eines ist, das erzählenswert erscheint, | |
und zwar nicht wegen der Ereignisse, sondern wegen der darin erreichten | |
Durchsichtigkeit des Lebens auf seine grundlegenden Bedingungen. Das ist | |
es, was „Boyhood“ erreicht. | |
Im Werk von Richard Linklater gibt es drei weitere Filme, die früher | |
entstanden sind, die sich aber durchaus in den gleichen Zusammenhang | |
stellen lassen: „Before Sunrise“, „Before Sunset“ und „Before Midnigh… | |
die Geschichte von Jesse und Celine, die einander vor vielen Jahren in | |
einem Zug nach Wien trafen. Damals war Ethan Hawke gerade erwachsen | |
geworden, und Julie Delpy hat später selbst begonnen, als Regisseurin „dem | |
Leben bei der Arbeit zuzusehen“, wie das nun immer wieder über Linklater | |
gesagt wird, in Abwandlung einer berühmten Charakterisierung der | |
Bewegungsbilder, die genauso sehr dem Tod bei der Arbeit zusehen, der mit | |
jeder Sekunde näher rückt. | |
Die Souveränität von Mason hat auch mit dem Privileg einer Jugend zu tun, | |
die bei allen Schwierigkeiten doch dazu angetan ist, ihm ein Zutrauen zum | |
Leben zu geben. Schlimme Dinge können jederzeit passieren, aber mit 18 | |
Jahren kann er das Gefühl haben, dass die Zeit auf seiner Seite ist. Dass | |
dies schon zahllose Elemente richtigen Lebens (in einem eben nicht | |
vollständig und grundsätzlich falschen) voraussetzt, und zwar von vielen | |
beteiligten Menschen, macht „Boyhood“ deutlich – ein Film über einen | |
Jungen, der die positiven Möglichkeiten der „Family of Man“ im besten Sinne | |
nachvollziehbar macht. | |
4 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Jochen Bordwehr | |
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