Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Langzeitfiktionen im Kino: Wenn aus Interrailern Eltern werden
> In „Boyhood“ wird das Aufwachsen eines Jungen über Jahre begleitet. Der
> Film hat viele Vorläufer. Dabei ist Altern im Hollywoodkino verpönt.
Bild: Julie Delpy und Ethan Hawke 1995 jung und verliebt in „Before Sunrise�…
Manche Filme lassen etwas wie neu erfunden erscheinen, obwohl es schon
lange da war. Richard Linklaters „Boyhood“ ist nicht das erste Filmprojekt,
das das reale Altern seiner Darsteller mit dem fiktiven Altern seiner
Figuren zusammenbringt. Linklater selbst hat mit seiner „Before …“-Reihe
schon einmal in Langzeitperspektive den Zahn der Zeit beim nagenden
Tagewerk begleitet. Von „Before Sunrise“ (1995) über „Before Sunset“ (…
bis „Before Midnight“ (2013) konnte man Julie Delpy und Ethan Hawke
insgesamt 18 Jahre älter werden sehen.
Dabei ging es nie um das wirkliche Alter der Schauspieler, sondern um das
ihrer Figuren und vor allem ihrer Beziehung. Aus den 20-jährigen
Interrailern wurden 30-Jährige mit ersten Knicken in der Biografie und dann
40-Jährige, die bei allen Neurosen ganz passable, verantwortungsvolle
Eltern abgeben.
Dass in „Boyhood“ auf ähnliche Weise die Geschichte eines Aufwachsens,
mithin ein Prozess, und eben nicht das bloße Vergehen der Zeit im
Vordergrund steht, trägt zur Intensität bei, die den Film, der nun gerade
in die Kinos gekommen ist, zu einem besonderen Erlebnis machen. So
besonders, dass seit seiner Premiere auf der Berlinale eine neue
Genre-Bezeichnung die Runde macht: die Langzeitfiktion.
Der Begriff lehnt sich an den der Langzeitdokumentation an, deren wohl
berühmtestes Beispiel genau wie „Boyhood“ mit Kindern im
Einschulungsprozess begann. Michael Apteds „Up“-Serie setzte 1964 mit der
Beobachtung von 14 Siebenjährigen ein. In Sieben-Jahres-Abständen liefert
der britische Regisseur seither neue Folgen, die jeweils frisch gedrehtes
Material mit Archivaufnahmen zusammenbringen.
## Kann man seiner Herkunft entkommen?
Als Inspiration gab Apted einst das Jesuiten-Motto an: „Give me a child
until he is seven and I will give you the man“. Die innere Spannung der
Behauptung, dass im Siebenjährigen schon der Mann erkennbar sei, wirkt wie
die Quizfrage, die jeder für sich ein Leben lang zu beantworten versucht
(und die im klassenbewussten Großbritannien noch besondere Schärfe
besitzt): Kann man seiner Herkunft, seinen frühen Prägungen entkommen?
Entscheidet die Umwelt oder der eigene Wille?
Wer die „Up“-Serie, eine ihrer weltweiten Nachahmer oder auch den deutschen
Vorläufer „Die Kinder von Golzow“ (die 1961 im Oderbruch begann) kennt,
weiß, dass die Frage noch nach 50 Jahren Langzeitbeobachtung erstaunlich
offen bleibt.
So ähnlich die Prämisse, so völlig unterschiedlich ist die Wirkung von
einerseits den Langzeitdokus wie den „Up“-Filmen und andererseits einer
Langzeitfiktion wie „Boyhood“. Sicher, in beiden Projekten erlebt der
Zuschauer eine wohl reflexhaft mütterliche/väterliche Rührung angesichts
der Heranwachsenden: wie die Glieder lang werden, wie Persönlichkeit und
Bartstoppeln in einst zarte Kindchenschema-Gesichter einziehen.
Doch Linklater errichtet in „Boyhood“ gleichsam einen geschützten Raum um
seine fiktive Figur herum, etwas was den Machern der „Up“-Serie nicht
möglich ist. Auch wenn das Altern der Figuren in beiden Fällen gleich
„real“ ist, läuft es bei Linklater in „Boyhood“ genauso wie in der „…
…“-Trilogie doch auf ein Mittel der Darstellung hinaus.
## Das Vergehen der Zeit im geschützten Raum
Das Alter und das Vergehen der Zeit lassen sich im geschützten Raum der
Fiktion wie „pur“ betrachten. Zugleich sind es Elemente, durch die von
etwas anderem erzählt wird: vom Gang durch die Institution Schule, vom
modernen Familiendasein mit Scheidungen und geteilten Sorgerechten, vom
allmählichen Wandel von Ritualen und Einstellungen. Was die Dokus dem
Betrachter in aufgeschnappten Häppchen vorsetzen, präsentiert die Fiktion
in formvollendeter, wohl getimter Dichte.
Mit dem Augenmerk auf dem Prozess der Reifung im Unterschied zum schnöden
„Erwachsenwerden“ steht Linklater in der Tradition auch von François
Truffaut und dessen Antoine-Doinel-Reihe. Im ersten Film, „Sie küssten und
sie schlugen ihn“, verkörperte der 15-jährige Jean-Pierre Léaud diesen
Antoine als schwieriges Kind mit einprägsam-eigenwilliger Ausstrahlung. Man
kann verstehen, dass Truffaut die Figur dieses Jungen (die
autobiografischen Züge trug) nicht gleich wieder aufgeben wollte. In einem
Kurz- und vier weiteren Spielfilmen ließ er ihn den Zyklus von
Verliebtsein, Ehe, Scheidung und etlichen Jobs durchlaufen.
Zwar entwickelte keiner der folgenden Filme mehr ganz die emotionale
Sogkraft von „Sie küssten und sie schlugen ihn“, aber dafür trat etwas
anderes in den Vordergrund: das Heranreifen des Schauspielers Jean-Pierre
Léaud. Der machte sich die Doinel-Rolle so sehr zu eigen, dass sein Name
heute den seiner fiktionalen Figur überragt. Ein Erfolg, der etwa für
Daniel Radcliffe, den die Welt als „Harry Potter“ vom zarten Elfjährigen
zum schüchternen 20-Jährigen hat heranwachsen sehen, nicht vorstellbar
scheint.
## Alltagstrott langweilt als Monotomie auf der Leinwand
Nicht nur einer Figur, sondern einer ganze Gruppe beim Altern und Reifen
zusehen kann man in Cédric Klapischs Trilogie um den einstigen
Erasmus-Studenten Xavier Rousseau, der in Frankreich als Neuversion des
Antoine Doinel gehandelte wurde. Nach „Barcelona für ein Jahr“ (2001) gab
es das „Wiedersehen in St. Petersburg“ (2004), in dem zwar weiterhin Xavier
im Zentrum stand, aber dennoch fast die ganze einstige WG in Kurzauftritten
zu sehen war.
Für den dritten Teil, „Beziehungsweise New York“ (2013), brachte Klapisch
immerhin noch die drei für Xaviers Leben wichtigsten Frauen zusammen. Der
Film illustriert allerdings auch die Tücken einer Langzeitfiktion. So groß
die Wiedersehensfreude mit einer vertrauten Figur auch ist: Was man im
wahren Leben als Alltagstrott hinnimmt, langweilt als Monotonie auf der
Leinwand. Manches, was als aufregende neue Situation im Film begann – das
Jahr in Barcelona – wächst sich in der x-ten Variation (St. Petersburg, New
York) zur Marotte aus: in welche Stadt stolpert unser Held als Nächstes?
Berlin oder Peking?
Als Mutter aller Langzeitfiktionen wird oft die sogenannte „Andy
Hardy“-Reihe angegeben, deren Hauptdarsteller Mickey Rooney kürzlich mit 93
Jahren verstarb. Gedreht von 1937 bis 1946 (mit einem Nachzügler aus dem
Jahr 1958), alterte Rooney als ordinary American in 16 Langfilmen vom
Teenager zum 26-Jährigen. Dem Plot dieser heute in ihrer süßlichen
Biederkeit kaum mehr erträglichen „sentimental comedies“ nach aber blieb er
über alle Filme und Jahre hinweg der ewige Teenager. Das Bestehen auf dem
Immergleichen unterläuft die vorgebliche Intention der lebenserzählenden
Langzeitfiktion.
## Graue Haare
Worin sich vor allem eines zeigt: Hollywoods sehr zwiespältiges Verhältnis
zum Altern. Ein Kind aufwachsen sehen, das geht gerade noch. So durfte in
den Tarzan-Filmen mit Johnny Weissmüller von 1939 bis 1947 dessen
Adoptivsohn „Boy“ vom Sieben- zum 16-Jährigen reifen, aber dann war
Schluss. Erwachsenwerden war für die Figur „Boy“ keine Option, genauso
wenig wie graue Haare für Tarzan.
Das Altern zu zeigen ist im Hollywoodkino überall dort verpönt, wo es kein
Maskentrick ist. In all den Sequels, die über Jahre hinweg ein festes
Figurenarsenal versammeln, wird das Älterwerden der Darsteller nämlich
stets eher ausgeblendet als für die Erzählung genutzt. Seit über 50 Jahren,
völlig unabhängig vom biografischen Alter des jeweiligen Schauspielers,
verkörpert James Bond den „Mann in den besten Jahren“.
Kino, das sei dem Tod bei der Arbeit zuschauen, lautet eines dieser
herrenlos herumstreunenden Zitate, das auftaucht, sobald die Rede auf Film
und Alter kommt. Einen seiner Ursprünge hat der Satz in Jean Cocteaus
„Orphée“, wo es heißt, man müsse nur das ganze Leben über in den Spiegel
schauen, um den Tod wie einen fleißigen Bienenschwarm im Stock arbeiten zu
sehen.
## Klammheimliche Schadenfreude
Es mutet wie eine Zuschauerverwechslung an, das Kino zum Spiegel zu
erklären. Schließlich sehen wir nicht uns, sondern die „andern“ auf der
Leinwand. Und von wegen dem Tod bei der Arbeit zusehen: ist das Altern doch
eher der Feind des Kinos, zumindest der persönliche aller Schauspieler.
Aber vielleicht liegt auch das im beliebten Zitat verborgen: die
klammheimliche Schadenfreude, mit der der langjährige Kinogänger im Grunde
jede Schauspieler-Karriere zur Langzeitfiktion erklären kann. Daniel
Radcliffe von elf bis zwanzig ist da nichts im Vergleich zu Jeff Bridges
mit 25 in „Thunderbolt and Lightfoot“ und mit 61 in „True Grit“. Oder J…
Spader mit 29 in „Sex, Lies and Videotapes“ und mit 54 heute in
„Blacklist“.
Was zuletzt noch einmal den Blick zurück auf „Boyhood“ lenkt, wo
schließlich auch die erwachsenen Darsteller Ethan Hawke und Patricia
Arquette um zwölf ganz reale Jahre altern. Obwohl im Hintergrund gehalten,
schlägt durch, wie unterschiedlich sich dieser Übergang von 30-Something zu
Ü 40 für Männer und Frauen gestaltet. Patricia Arquette von 34 bis 46 – das
ist ein Erlebnis für sich. Und wäre noch mal ein ganz anderes Thema.
6 Jun 2014
## AUTOREN
Barbara Schweizerhof
## TAGS
Film
Kino
Boyhood
Hollywood
Harry Potter
George Clooney
Film
Film
Boyhood
Richard Linklater
## ARTIKEL ZUM THEMA
Diversity bei Harry Potter: Hauptsache braune Augen und klug
In einem Harry Potter-Theaterstück soll Hermine von der Schwarzen Noma
Dumezweni gespielt werden. Prompt behaupten ein paar Rassisten, das ginge
nicht.
Verleihung der Golden Globe Awards: Großer Gewinner „Boyhood“
Richard Linklaters Film konnte drei Golden Globe Awards einheimsen. George
Clooney wurde für sein Lebenswerk geehrt und solidarisierte sich mit
„Charlie Hebdo“.
Griechischer Fim „Meteora“: Abstand zur Wirklichkeit
Metaphysik des Kinos: Spiros Stathoulopoulos erzählt in seinem Spielfilm
„Meteora“ eine Liebesgeschichte zwischen Mönch und Nonne.
Filmstart „Oktober November“: Schwingung bis in die Waldhütte
Götz Spielmanns Kinofilm „Oktober November“ zeigt vor allem eines: An der
Wohnungseinrichtung erkennt man, wer fest im Leben steht und wer nicht.
Kinostart „Boyhood“: Die Zeit ist auf seiner Seite
Richard Linklater hat für seinen Spielfilm „Boyhood“ zwölf Jahre
Langzeitbeobachtung auf drei Stunden konzentriert – ein einzigartiges
Coming of Age.
Letzte Klappe Berlinale 2014: Zwischen Charme und Grauen
Der Goldene Bär geht an den chinesischen Film „Bai Ri Yan Huo“, für
„Boyhood“ bleibt ein Silberner Bär. Trotz mancher Ausnahme enttäuschte die
Berlinale.
Richard-Linklater-Film auf der Berlinale: Epische Langzeitbeobachtung
Über 12 Jahre wurde „Boyhood“ gedreht, er erzählt eine gesamte Jugend –…
glänzt mit einer der schönsten Frauenfiguren im US-Kino seit langem.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.