# taz.de -- Letzte Klappe Berlinale 2014: Zwischen Charme und Grauen | |
> Der Goldene Bär geht an den chinesischen Film „Bai Ri Yan Huo“, für | |
> „Boyhood“ bleibt ein Silberner Bär. Trotz mancher Ausnahme enttäuschte | |
> die Berlinale. | |
Bild: Alle verteilt, die Bären der Berlinale. | |
Wie traurig! Richard Linklaters Film „Boyhood“ bekommt keinen Goldenen | |
Bären. Zwar erhielt der Filmemacher aus Austin, Texas, am Samstagabend | |
einen Silbernen Bären für die beste Regie, aber eben nicht den Hauptpreis | |
der 64. Berlinale. Dabei hätte er ihn sich für seine in die Fiktion | |
gewendete Langzeitbeobachtung nun wirklich verdient. Zwölf Jahre lang | |
arbeitete Linklater an „Boyhood“, der Film schaut den beteiligten | |
Schauspielern – neben anderen Patricia Arquette, Ellar Coltrane, Ethan | |
Hawkes und Linklaters Tochter Lorelei – beim Erwachsenwerden zu. | |
Das ist ein Wagnis, denn wer hätte 2002 sagen können, dass der seinerzeit | |
sechs Jahre alte Ellar Coltrane, der die Hauptfigur Mason spielt, nicht | |
2008 oder 2010 die Lust verliert? Seine Tochter, berichtet der Regisseur, | |
habe sich an einem Punkt gewünscht, ihre Figur möge sterben, damit sie aus | |
dem Film aussteigen könne. | |
Doch das Drama eines vorzeitigen Todes hätte zu „Boyhood“ nicht gepasst. | |
Die Leichtigkeit, mit der Linklater von Kindheit und Jugend, von Scheidung, | |
Patchworkfamilien, von finanzieller Enge, von der Not und dem Spaß der | |
Pubertierenden erzählt, ist großartig. „Boyhood“ strotzt vor Charme. | |
Linklater gelingt etwas, was auf dieser Berlinale, zumal im | |
Wettbewerbsprogramm, selten war: Er macht aus Alltag Kunst. | |
Den Goldenen Bären vergab die Jury, deren Vorsitz in diesem Jahr der | |
US-amerikanische Produzent James Schamus innehatte, an den chinesischen | |
Film „Bai Ri Yan Huo“ („Black Coal, Thin Ice“). Vergisst man für eine | |
Sekunde die Schönheit von „Boyhood“, ist das eine gute Entscheidung. | |
Denn der Film von Diao Yinan ragt aus dem 20 Beiträge umfassenden | |
Wettbewerbsprogramm heraus, insofern er die Reize des Genrekinos – „Bai Ri | |
Yan Huo“ trifft viele Anleihen beim Film Noir – mit einem genauen Blick auf | |
die Verhältnisse in einer nordchinesischen Provinzstadt verschränkt. | |
## Würdige Gewinner | |
Die Kamera Dong Jingsongs schaut auf von Neonröhren ausgeleuchtete Räume | |
und auf eine von Winter und Bergbau geprägte Landschaft, auf Förderbänder, | |
rostige Schaufelradbagger, auf Transportbänder und auf Güterwaggons. In den | |
Loren werden Leichenteile gefunden, ein vom Leben gebeutelter | |
Polizeikommissar ermittelt lange Zeit ohne Fortune; die Spur führt | |
schließlich zu einer Reinigung, zu einer trauernden Witwe und zu einer | |
Lederjacke, deren Wert von 28.000 Yuan in einem irrwitzigen Missverhältnis | |
zu der Gewalt steht, die dieser Jacke wegen in die Welt kommt. | |
Würdige Gewinner wie „Bai Ri Yan Huo“ oder „Boyhood“ trösten nicht da… | |
hinweg, dass der Wettbewerb der diesjährigen Berlinale insgesamt | |
enttäuschte. Sicher, es gab Wes Andersons „The Grand Budapest Hotel“, einen | |
Film, der unter seiner verspielten Oberfläche einen melancholischen Kern | |
birgt, da er die Erinnerung an ein vor langer Zeit untergegangenes Europa | |
in sich trägt, an ein Europa königlich-kaiserlicher Kauzigkeit, dem | |
„ZZ“-Schwarzhemden den Garaus machen. | |
Anderson erhielt dafür den Großen Preis der Jury. Es gab „Die geliebten | |
Schwestern“ von Dominik Graf, einen fast dreistündigen Film, der um die | |
Ménage-à-trois, die Friedrich Schiller mit den Schwestern Caroline von | |
Beulwitz und Charlotte von Lengefeld verband, kreist. Ein Herzensprojekt, | |
an dem vieles besticht und manches nicht. Es gab Alain Resnais’ vergnügte | |
Kreuzung aus Boulevard und Avantgarde, „Aimer, boire et chanter“, für die | |
der bei der Preisverleihung abwesende Regisseur den Alfred-Bauer-Preis | |
erhielt. Diese Auszeichnung gilt einem „Spielfilm, der neue Perspektiven | |
eröffnet“, was angesichts des hohen Alters Resnais’ eine feine Ironie | |
birgt. Am 3. Juni 2014 feiert der Filmemacher seinen 92. Geburtstag. | |
Aber es gab eben auch vieles in diesem Wettbewerb, was einen gleichgültig | |
ließ – etwa Celina Murgas „La tercera orilla“ oder „Jack“ von Edward | |
Berger, der zwar nach der Sensibilität der Brüder Dardenne suchte, sie aber | |
unter anderem wegen des dröhnenden Scores verfehlte. Und es gab das schiere | |
Grauen. „Aloft“ von Claudia Llosa zum Beispiel, eine zweistündige Tour de | |
Force durch esoterische Heilmethoden, kratertiefe Kindheitstraumata und | |
kanadische Eislandschaften, gefilmt in nervösen Nahaufnahmen. | |
## Wasser und Brot | |
Oder „Zwischen Welten“ von Feo Aladag. Darin geht es um Jesper, einen | |
Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, und um Tarik, dessen jungen Dolmetscher, | |
der um sein Leben fürchten muss. Man wird den Eindruck nicht los, das | |
Drehbuch sei durch die Hände opportunistischer TV-Redakteure und | |
Filmförderer gegangen: Alles passt ins Schema, alles ist vorhersehbar, | |
nichts unerwartet, und der sonst so tolle Schauspieler Ronald Zehrfeld wird | |
dazu genötigt, Feldbetten zu zerschmettern, wenn seine Figur frustriert | |
ist. Hilfe. | |
Und mit „Kreuzweg“ von Dietrich Brüggemann kam es noch schlimmer. Der junge | |
Regisseur tat sich vor einem Jahr hervor, als er in seinem Blog ein | |
Pamphlet mit dem Titel „Fahr zur Hölle, Berliner Schule“ veröffentlichte. | |
Der Text las sich, als hätten sich Christian Petzold, Angela Schanelec und | |
Thomas Arslan an die Spitze der deutschen Filmrepublik geputscht und | |
Filmemacher wie Brüggemann in die feuchten Kerker der Filmförderanstalten | |
gesperrt, wo sie fortan bei Wasser und Brot darbten. | |
Das ist Quatsch, aber im deutschen Filmbusiness schadet es offenbar nicht, | |
sich großmäulig zu gerieren, und es schadet offenbar auch nicht, wenn die | |
Türen, die einzurennen man vorgibt, sperrangelweit offen stehen. In diesem | |
Jahr bekam Brüggemanns „Kreuzweg“ nicht nur einen Platz im Wettbewerb, der | |
Film erhielt auch einen Silbernen Bären fürs beste Drehbuch. Es geht darin | |
um eine Jugendliche, die in einer strenggläubigen Familie aufwächst und in | |
einer katholischen Gemeinde, die sich hinter das zweite Vatikanische Konzil | |
zurückwünscht. Das hätte interessant werden können, hätte Brüggemann die | |
Figuren ernst genommen. Doch gleich, ob Mutter oder Priester – sie sind | |
bloße Karikaturen. | |
Die Idee, dass auch katholische Fundamentalisten liebende, zugewandte, | |
fröhliche Menschen sein könnten, ist „Kreuzweg“ fremd, genauso wie das | |
Begehren, die innere Logik dieser Menschen zur Anschauung zu bringen oder | |
sich selbst und dem Publikum zuzumuten, die dem Fundamentalismus eigene | |
Rationalität nachzuvollziehen. Nachvollziehen heißt ja nicht gutheißen. Je | |
lächerlicher „Kreuzweg“ die Gläubigen zeichnet, umso eher dient dieser Fi… | |
dazu, dass sich die liberalen, säkularen Zuschauer in ihrer Weltsicht | |
bestätigt fühlen. | |
Dazu kommt ein formales Korsett. „Kreuzweg“ besteht aus 14 meist starren | |
Einstellungen, die die Rigidität dieser Lebensverhältnisse unterstreichen | |
sollen, sich dabei aber in bloßer Form-Inhalt-Tautologie erschöpft. Was | |
schrieb Brüggemann über die Berliner Schule? „Willkommen in der Welt des | |
künstlerisch hochwertigen Kinos, willkommen in einer Welt aus quälender | |
Langeweile und bohrender Pein.“ An den anderen kritisiert man ja für | |
gewöhnlich das am lautesten, was man insgeheim an sich selbst verachtet. | |
## Versteckt im Programm des Forums | |
Zum Glück gab es, versteckt im Programm des Forums, eine Art Gegenfilm zu | |
„Kreuzweg“: „Iranien“ von Mehran Tamadon. Der Regisseur, ein in Paris | |
beheimateter Exiliraner, wagt ein Experiment. Während eines Aufenthalts in | |
Teheran lädt er vier strenggläubige Anhänger der islamischen Republik in | |
ein Wochenendhaus auf dem Land ein, um gemeinsam mit ihnen zu debattieren – | |
über den Schleier, über Musik, über Mehrheiten und Minderheiten und über | |
die Frage, ob es so etwas wie einen gemeinsamen Raum geben kann, den sowohl | |
die Islamisten wie auch die Säkularen bewohnen können. | |
Die vier Gläubigen sind eloquent und rhetorisch geschickt, sie sind | |
freundlich und humorvoll, die innere Logik, aber auch die Perfidien ihrer | |
Argumentation treten zutage, so dass nach und nach deutlich wird: Ihr | |
Räsonieren lässt sich eben gerade nicht mit einer überheblichen Geste vom | |
Tisch fegen. Der gemeinsam bewohnte Raum entpuppt sich im Lauf des Films | |
als utopisch (ohnehin wäre er nur für Männer gedacht gewesen). Und der | |
Regisseur zahlt für sein Experiment einen Preis: Nach dem Dreh wird sein | |
Pass eingezogen, einen Monat muss er warten, bis er nach Paris zurückreisen | |
kann. | |
Bei über 400 gezeigten Filmen – das ist das Gute an der Berlinale – ist | |
immer etwas dabei, das herausfordert, freut, besticht. Und das Stoff zum | |
Nachdenken gibt. „Iranien“ wäre ein Beispiel von vielen möglichen. Das | |
ändert nichts daran, dass die Berlinale, möchte sie sich als Filmfestival | |
ernst nehmen, hart an ihrem künstlerischen Profil arbeiten muss. | |
16 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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