# taz.de -- Kulturbetrieb mit Hygienekonzept: Schizophrenes Leben | |
> Nach dem Erscheinen meines Romans mache ich Lesungen unter | |
> Corona-Bedingungen. Ich sehe ein, dass dies so sein muss. Aber die | |
> Verzweiflung wächst. | |
Bild: Strenge Abstands-Vorgaben bei Kulturveranstaltungen: Stühle im Landesthe… | |
Ich hatte in letzter Zeit ein paar Lesungen. Ein neues Buch ist erschienen, | |
es ist leider keine gute Zeit für Bücher, weil es schwer ist, Lesungen zu | |
organisieren. In größeren Räumen und mit finanzieller Hilfe ist es eben | |
gerade so möglich. Denn die Vorgaben sind streng. | |
Einen Meter fünfzig müssen die Menschen auseinander sitzen. Wenn sie | |
aufstehen und herumlaufen, auf die Toilette etwa, müssen sie einen MNS | |
aufsetzen, ebenso, wenn sie kommen. Sie sollen Abstand halten und durch den | |
MNS sprechen. Nur so dürfen Veranstalter*innen überhaupt eine Veranstaltung | |
durchführen. | |
Für kleinere Läden, Buchläden etwa, die in der Vergangenheit immer | |
engagiert Lesungen veranstaltet haben und da schon ihr Herzblut | |
unentgeltlich in die Organisation gesteckt haben, ist es oft nicht mehr | |
handhabbar. In ihren Läden ist nicht genug Platz, um ein Hygienekonzept | |
umzusetzen. Deshalb gibt es nur wenige Lesungen, kaum jemand geht auf | |
Lesereise. Bei den meisten Autor*innen sind die meisten Lesungen abgesagt. | |
Ähnlich schwierig gestaltet es sich für den ganzen Kulturbereich. | |
Aber dann habe ich doch Lesungen, in größeren Räumen, mit wenigen Menschen, | |
die ich nicht nah an mich heranlassen darf. Mit denen ich durch den MNS | |
hindurch ein kurzes Gespräch führe. Ein Buch signiere. Denn ich sehe ein, | |
dass dies so sein muss. Damit solche Veranstaltungen nicht zum | |
Corona-Hotspot werden. | |
Ich halte Abstand, ich schüttele keine Hände, drücke niemanden an mich, | |
lasse überhaupt so gut wie niemanden an mich heran und fühle bei aller | |
leisen Verzweiflung, die dies in mir auslöst, auch Dankbarkeit, überhaupt | |
lesen zu können. Jemand hat es möglich gemacht, jemand bezahlt mich, jemand | |
zeigt Interesse, kommt und hört sich mich an. Dafür bin ich dankbar. | |
Aber die Verzweiflung wächst, wenn es so weitergeht, denke ich, und das | |
wird es ja. Wir wollen im November unsere Lesebühne wieder aufmachen, wir | |
sind zu viert und werden nur sehr wenige Menschen in unseren Raum lassen | |
dürfen. Wir haben schon vorher mit dieser Veranstaltung nur sehr wenig Geld | |
verdient, dann werden wir hoffentlich noch den Techniker bezahlen können. | |
Wir sind nicht alleine. Künstler*innen zeigen immer noch viel Engagement, | |
sie machen Veranstaltungen, weil sie sie machen wollen, auch wenn sie kaum | |
oder nichts mehr daran verdienen. Wir wollen niemanden anstecken, wir | |
wollen kein Hotspot sein und nicht egoistisch. Auch wenn es uns unseren | |
Verdienst kostet, vielleicht unsere Existenz. | |
Ich habe also eine trotz allem sehr schöne und mich beschwingende Lesung in | |
Planten un Blomen im Musikpavillon. Es ist so ein letzter Sommer- oder | |
eigentlich schon früher Herbstabend. Das Schöne und das Schmerzende liegen | |
eng beisammen, auch in mir. Und so gehe ich in dieser Stimmung zu Fuß nach | |
Hause, am Fernsehturm vorbei, auf dem Fußweg, der zur Sternschanze führt, | |
und da findet doch zwischen den Blättern und Stämmen glatt eine Party | |
statt. Satte Bässe, Leute mit Getränken in der Hand. Interessiert sehe ich | |
rüber, sie stehen eng beisammen und trinken Bier. Niemand trägt eine Maske. | |
Ich laufe weiter, am Bahnhof vorbei, unter der Brücke hindurch, dann durch | |
die Susannenstraße. Hier gibt es kein Virus mehr. Hier muss ich, die sich | |
eben noch im disziplinierten, erzwungenen Abstand von Freunden und | |
Interessierten befand, mich an einer Menge unmaskierter Menschen | |
vorbeidrücken, durch sie hindurchdrängeln, niemand trägt auf der Straße | |
einen MNS, natürlich nicht, und die Masse atmet mir gewaltig in mein | |
maskiertes Gesicht. Die Kneipen und Restaurants sind voll. In Räumen, in | |
die wir im Kulturbetrieb allenfalls fünf Leute setzen dürften, sitzen | |
wenigstens fünfzig. | |
Für einen Moment fühlt es sich gut an. Es ist das normale, das pralle, sich | |
drängelnde, kreischende, alberne, großspurige, betrunkene, jugendlich | |
unbeschwerte Leben. Aber wie eine Welle brandet Hass in mir auf – und so | |
ein Gefühl soll man wirklich nicht füttern. So ein Gefühl ist nicht | |
nützlich und zerstört dich. Warum muss das Leben immer so schizophren sein? | |
10 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
## TAGS | |
Fremd und befremdlich | |
Lesung | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Hamburg | |
Schule und Corona | |
Theaterprobe | |
Klassische Musik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Frankfurter Buchmesse abgesagt: Live, aber ohne Publikum | |
Die für Oktober geplante Frankfurter Buchmesse findet nun doch nicht statt. | |
Ein Online-Programm soll es dennoch geben. | |
Theater in Coronazeiten: Was für ein Theater | |
Nach mehr als fünf Monaten Pause öffnen die Theaterhäuser wieder. Mit | |
strengen Regeln. Zu Besuch in der Berliner Volksbühne. | |
Start des Musikfests 2020 in Berlin: Ein großes Trotzdem | |
Viele Veranstaltungen fallen coronabedingt aus, das Musikfest in Berlin | |
findet aber statt. Eröffnet hat es in der Philharmonie der Pianist Igor | |
Levit. |