# taz.de -- Theater in Coronazeiten: Was für ein Theater | |
> Nach mehr als fünf Monaten Pause öffnen die Theaterhäuser wieder. Mit | |
> strengen Regeln. Zu Besuch in der Berliner Volksbühne. | |
Auf den ersten Blick wirkt alles ganz normal. Zehn Schauspieler:innen | |
stehen mit Cowboyhüten und Gewehren auf der Bühne. Ein kurzes Wortgefecht, | |
dann richten sie die Waffen aufeinander und ballern mit Platzpatronen los. | |
Ein Showdown, wie es ihn am Ende eines jeden Western gibt. Doch manche | |
tragen während der Probe ein Requisit, das nicht zur Wildwestkulisse passen | |
will: eine FFP2-Maske. Und das ist nur eine Einschränkung von vielen beim | |
[1][„Kaiser von Kalifornien“], bei dem ersten Stück, das nach den | |
coronabedingten Schließungen an der Volksbühne Berlin wieder gezeigt wird. | |
Über fünf Monate ist es her, dass die Spielstätten der Republik von einem | |
Tag auf den anderen dichtmachen mussten. Die Premieren wurden abgesagt, | |
Repertoirestücke eingemottet, Zehntausende Mitarbeiter:innen in eine | |
vorgezogene Spielzeitpause geschickt oder zur Entwicklung von | |
Alternativstrategien abgestellt. In Windeseile wurden Ersatzprogramme | |
geschaffen, man zog ins Netz um – mit meist aber wenig überzeugenden | |
Alternativen. Der Reiz des Theaters ist ja gerade die leibhaftige | |
Zusammenkunft, die Hingabe an ein Liveerlebnis, das gemeinsame Erleben von | |
Raum und Zeit. | |
Nun fahren die Theater zur neuen Saison wieder hoch, mitten in der | |
Coronakrise. Aber wie funktioniert so ein Neustart mit Masken und | |
Mindestabstand? Kann Kunst da frei sein? Und macht es bei all den Regeln | |
noch Spaß? | |
Ein Besuch an der [2][Berliner Volksbühne]. An diesem Montag sind es noch | |
drei Tage bis zur Premiere, hinter den Kulissen ist schon viel los. | |
Maskierte Menschen laufen in dem labyrinthischen Treppenhaus auf und ab, | |
unterwegs zwischen Garderobe, Seitenbühne und Bürotrakt. Es wirkt, als | |
seien sie froh, wieder hier zu sein. | |
Im Intendantenbüro holzvertäfelte Wände, das Fenster steht sperrangelweit | |
offen, damit Aerosole keine Chance haben. Die Maske könne man abnehmen, | |
sagt Interimsintendant Klaus Dörr, kurz steht man unschlüssig voreinander, | |
weil Händeschütteln ja nicht mehr geht. | |
Dörr, 59 Jahre alt, schwarzer Anzug, spricht mit leiser Stimme, manche | |
Worte sind fast nicht zu verstehen. Er wirkt gelassen, professionell. Nur | |
manchmal blickt er zu seiner Pressesprecherin: Hat er bei der Aufzählung | |
des digitalen Alternativprogramms auch nichts vergessen? | |
Die Ruhe bewahren, das kann Dörr. Schließlich ist die Volksbühne | |
krisenerprobt. Die letzte Großkrise ist noch nicht lange her. Im März 2018 | |
wurde Dörr als künftiger geschäftsführender Direktor vorgestellt. Kurze | |
Zeit später sprang er kommissarisch für den damaligen Intendanten Chris | |
Dercon ein, den man nach monatelanger heftiger Kritik und erbittertem | |
Streit vor die Tür gesetzt hatte. Eventisierung war Dercon vorgeworfen | |
worden, der zuvor die Tate Gallery of Modern Art in London geleitet hatte. | |
Und noch schlimmer: Theaterinkompetenz. Es kamen auch kaum noch Gäste. Da | |
war ein Theatermann wie Dörr, der als studierter Wirtschaftswissenschaftler | |
auch gut mit Zahlen kann, der ideale Ersatz. | |
„Das ist jetzt meine dritte Krisenspielzeit, aber dafür bin ich ja auch | |
geholt worden“, sagt er und lacht. Doch sein Lachen klingt ein wenig | |
angestrengt, die vergangenen Monate waren zermürbend. Das Haus lief nur im | |
Notbetrieb: Für viele Gewerke gab es kaum etwas zu tun, während der | |
Intendant, die Dramaturgie und die Presseabteilung sich vor Arbeit kaum | |
retten konnten: „Ich hatte das Gefühl, ich arbeite von morgens um 7 Uhr bis | |
abends um 10 Uhr.“ Eine Videokonferenz jagte die nächste, Telefonate, | |
E-Mails, SMS. Verbindlichkeiten mussten abgewickelt, Inszenierungen | |
verschoben und Produktionspläne der Gefährdungslage angepasst werden. Eine | |
Sisyphusarbeit, schließlich war eine sinnvolle Vorausplanung nahezu | |
unmöglich. | |
Als landeseigener Betrieb konnte die Volksbühne außerdem keine Kurzarbeit | |
anmelden. Das Haus finanzierte seine Mitarbeiter:innen weiterhin aus dem | |
laufenden Etat. Doch mangels Ticketeinnahmen kam es anderweitig zu | |
Engpässen. Bis Ende dieses Jahres sei von 1,5 Millionen Ersparnissen 1 | |
Million aufgebraucht, mit Glück schaffe man es bis zum Intendanzantritt | |
von René Pollesch in der Spielzeit 2021/22 gerade so auf die schwarze | |
Null, sagt Dörr. | |
Und dann musste sich die Volksbühne auch noch mit den [3][„Hygienedemos“] | |
herumschlagen: Immer samstags protestierten Rechtspopulist:innen und | |
Verschwörungstheoretiker:innen bis Mitte Mai vor dem Haus am | |
Rosa-Luxemburg-Platz gegen die wegen der Coronapandemie angeordneten | |
Einschränkungen. Die Volksbühne verhüllte ihren Schriftzug und ihr | |
Wahrzeichen, das Räuberrad, doch die Demonstrant:innen ließen nicht locker, | |
behaupteten sogar, sie hätten sich an dem Haus gegründet. „Völlig | |
ausgeschlossen“, sagt Dörr, der Fall liege jetzt bei der | |
Staatsanwaltschaft. Außerdem eine Anzeige wegen persönlicher Bedrohung. | |
Dörr hatte die Anmelder der Demonstrationen als „veritable Lügner“ | |
bezeichnet, danach bekam er Hasspost. | |
Jetzt blicke man aber nach vorn, auch wenn nur ein Stück aus dem | |
bestehenden Repertoire gespielt werden könne. Die anderen Repertoirestücke | |
seien nicht coronatauglich, weil Chöre involviert seien oder sich | |
Mitspielende zu nahe kämen. | |
„Immerhin konnten wir den Kern der ursprünglich geplanten Spielzeit | |
erhalten“, sagt Dörr. „Acht Produktionen im großen Saal, bei denen antike | |
Stoffe transformiert und überschrieben werden.“ Und noch etwas konnte | |
gerettet werden: Alexander Eisenachs Inszenierung des „Kaisers von | |
Kalifornien“, die am 19. März hätte uraufgeführt werden sollen und sich | |
beim Lockdown in den Endproben befand. | |
Auf dem Weg zur Probe kommt man an einer Garderobe vorbei. Ein Zettel weist | |
auf die coronabedingte Maximalbelegung von vier Personen hin, doch jetzt | |
ist die Garderobe leer, nur die langen Gewänder an der Kleiderstange | |
bewegen sich im Luftzug, der durch das geöffnete Fenster kommt. Vor der Tür | |
trifft man zwei Ankleider:innen. Den Coronaauflagen zufolge dürfen sie den | |
Schauspieler:innen nur noch in Ausnahmefällen in die Kostüme helfen, | |
erzählen sie. Und mit der Maske und den Auflagen mache die Arbeit nur halb | |
so viel Spaß, die Unbeschwertheit sei weg, das Herumalbern fehle. | |
Auf der Seitenbühne stapeln sich Fleischbrocken, Weizenbündel, in einer | |
Ecke steht ein Stab mit einem Totenkopf. An einem Tisch lehnen Gewehre, | |
dahinter wie ein vergessenes Requisit aus einem anderen Stück eine blaue | |
Flasche Desinfektionsmittel. | |
Das Regieteam hat sich über die vorderen Reihen des Saals verteilt. Jede:r | |
sitzt an einem Tisch, die Blicke abwechselnd auf Textbücher und Bühne | |
gerichtet. In der ersten Reihe lehnt Regisseur Alexander Eisenach im | |
Samtsessel und gibt über ein Mikrofon Anweisungen. Statt Aufregung herrscht | |
hier Konzentration. Die Bewegungsabläufe sitzen, nur hier und da wird | |
nachjustiert – „Kannste dich mal ein bisschen uffrappeln?!“, berlinert | |
Eisenach. | |
Die Szene mit dem Westernshowdown hat geklappt. Nun soll etwas Neues | |
drankommen, doch zuerst ist Pause. Ein Darsteller kommt von der Seitenbühne | |
zurück aufs Parkett und streicht sich Desinfektionsmittel über Unterarme | |
und Hände, so wie es Ärzt:innen auf dem Weg in den OP-Saal machen. Dann | |
diskutiert er mit dem Regisseur über einen Monolog. Beim Sprechen hebt und | |
senkt sich seine FFP2-Maske, das Atmen fällt bei körperlicher Anstrengung | |
darunter schwer. | |
Außer an Luft fehlt es auch an Nähe. Es ist gewöhnungsbedürftig, wenn man | |
die räumliche Distanz zwischen Menschen jetzt auch im künstlerischen | |
Kontext sieht. Seltsam, wenn Figuren so gar keinen Körperkontakt mehr | |
haben. „Als die Premiere abgesagt wurde, war das natürlich bitter“, erzäh… | |
Alexander Eisenach, als er später mit einem Bier auf den Treppenstufen des | |
Theaters sitzt. Der Regisseur ist 36 Jahre alt, eine Mischung aus | |
Intellektuellem und Berliner Junge. Für ihn als Ostberliner sei die | |
Volksbühne das prägende Theater gewesen, sagt er, und „Der Kaiser“ seine | |
erste Inszenierung am Haus, da sei das Aus im März natürlich doppelt | |
schmerzhaft gewesen. | |
Das Stück, das sich um Aufstieg und Niedergang des Schweizers Johann August | |
Sutter dreht, der im 19. Jahrhundert eine Privatkolonie auf dem heutigen | |
Gebiet von Sacramento gründete, habe durch die lange Unterbrechung aber | |
gewonnen, sagt Eisenach, der es auch selbst geschrieben hat. Die | |
Unterbrechung erweitere den historischen Stoff um eine aktuelle Komponente. | |
Sutter, der lange als Nationalheld gefeiert wurde, war zwar schon vorher | |
wegen Sklavenhandels kritisiert worden, doch erst während der aktuellen | |
Black-Lives-Matter-Demonstrationen holte man seine Statue nun vom Sockel. | |
Auch sonst habe die Unterbrechung seiner Arbeit gutgetan, sagt Eisenach. | |
Sein Verständnis von historischen Momenten sei gewachsen. In dem Stück geht | |
es auch um den kalifornischen Goldrausch, der durch einen Fund auf Sutters | |
Grund ausgelöst wurde und zur kapitalistischen Neuordnung einer ganzen | |
Gesellschaft führte. „Ich glaube, es gibt immer wieder Momente in der | |
Geschichte, in denen man das Gefühl hat, die Welt ordnet sich neu“, sagt | |
Eisenach. „Und so einen Moment erleben wir jetzt auch gerade.“ | |
Für die inszenatorische Arbeit bedeutete Corona aber natürlich eine | |
Umstellung. „Wir haben vieles verändern müssen. Normalerweise packen sich | |
die Leute bei mir schon viel an. Im ‚Kaiser‘ gab es eine sehr körperliche | |
Tanzszene, die so jetzt nicht mehr geht.“ Aber die Verbote böten auch | |
Chancen: „Ich habe versucht, sie wie eine Art Dogma zu sehen, das man sich | |
setzt und mit dem man jetzt umgehen muss.“ | |
Viel irritierender sei es, körperliche Nähe zu zeigen, so wie es gerade | |
beim Fußball der Fall ist. Denn diese Nähe sei eine Illusion und | |
Illusionstheater sei selten interessant, sagt Eisenach. „Mit dem Abstand | |
auf der Bühne kann ich eine Not erzählen, die einige vielleicht auch privat | |
empfinden, weil ihnen Berührung fehlt.“ | |
Trotzdem musste er auch umdenken. „Mein normaler Impuls gegenüber Regeln | |
ist, sie zu hinterfragen. Aber jetzt sind sie mit gesundem Menschenverstand | |
begründet, und Widerstand dagegen ist einfach dumm.“ | |
Der Satz dürfte Stefan Pelz gefallen. Er ist der technische Direktor des | |
Hauses und für die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften zuständig. Das | |
ist auch sonst kein leichter Job, jetzt kommen die Coronaregeln noch dazu. | |
„Wenn ich gefragt werde, wie geht’s so, sage ich: ‚Corona, Corona, Corona… | |
weil ich mich in einem ungeahnten Ausmaß mit diesem Thema beschäftigen | |
muss.“ Pelz ist im ständigen Austausch mit dem Betriebsarzt und einer | |
Fachkraft für Arbeitssicherheit, die für mehrere Berliner Bühnen zuständig | |
ist. Und er hat sich jede Menge Informationen angelesen, die er an seine | |
Mitarbeiter:innen weitergeben muss. Informationen, die oft schnell überholt | |
sind, sodass es nicht leicht ist, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben. | |
Zum Beispiel was die Aerosole angeht, von denen am Anfang der Pandemie | |
keine Rede war, [4][die dann aber in den Fokus gerieten]. Also rief Pelz | |
bei der Lüftungstechnikerin an, die vor einigen Jahren für die Erneuerung | |
der Lüftungsanlage verantwortlich war. Gemeinsam entschied man, den | |
Umluftanteil auf null herunterzufahren, damit nur noch frische, gefilterte | |
Luft in den Saal gepustet wird. Das sei zwar gut gegen das Virus, sagt | |
Pelz, aber aus energiespartechnischen Gründen suboptimal. Und weil es keine | |
Pausen mehr geben darf, um enges Beisammenstehen zu verhindern, kann ein | |
Stück jetzt nur rund zweieinhalb Stunden dauern. „Das ist natürlich ein | |
erheblicher Eingriff in die Kunst“, sagt Pelz. | |
## Körperliche Nähe verboten | |
Spätestens bei der ersten Probe müsse eine Einweisung in die neuen Regeln | |
stattfinden. Neben dem Verbot körperlicher Nähe gebe es auch das Verbot, | |
Requisiten einfach weiterzureichen. Schauspieler:innen müssten sich vorher | |
die Hände desinfizieren oder Handschuhe tragen, die danach entsorgt würden. | |
Bei Unterschreitung des Mindestabstands von 1,50 Metern müssten sie einen | |
Mund-und-NasenSchutz tragen, bei längerem Unterschreiten eine FFP2-Maske. | |
Beim Sprechen tragen die Schauspieler:innen aber keine Maske, weil | |
sonst kaum etwas zu verstehen wäre. Meist reden sie zum Publikum hin, | |
weshalb die ersten fünf Reihen im Zuschauerraum aus Sicherheitsgründen | |
ausgebaut sind. Bei Dialogen stehen sie mit Abstand so zueinander, dass die | |
Sprechrichtung am Gegenüber vorbeigeht. Diese Regeln ließen die Bühne zu | |
einer Art Hindernisparcours werden, wobei man ständig den Abstand von den | |
Kolleg:innen einschätzen und die Richtung sondieren müsse, in die man | |
spreche, um andere nicht durch die eigenen Aerosole zu gefährden, erzählt | |
ein Schauspieler. Und der Kameramann, dessen Liveaufnahmen während der | |
Vorstellung an die Wände projiziert werden, wirkt hinter seiner FFP2-Maske | |
und dem Plastikvisier wie jemand, der zu einer Expedition in ein | |
Seuchengebiet aufgebrochen ist. | |
Noch zwei Tage bis zur Premiere. Im Foyer trifft man Sarah Franke, die in | |
dem Stück eine Goldsucherin spielt. Sie kommt zu spät, sie hatte einen | |
Platten und musste mit der Straßenbahn fahren, obwohl sie das wegen des | |
Infektionsrisikos nicht gern tue, erzählt sie, während sie auf eine | |
Sitzgruppe zusteuert. Nicht auszudenken, wenn man sich so kurz vor der | |
Premiere infizieren würde. | |
Franke ist 35 Jahre alt und hat eine prägnante Stimme, rau und tief. Man | |
hört ihr gern zu. So dramatisch, wie man sich das Spielen gerade vorstelle, | |
sei es nicht, erzählt sie. „Es macht auf jeden Fall noch Spaß, vielleicht | |
sogar mehr als vorher, weil man es mehr zu schätzen weiß.“ Aber die neuen | |
Regeln würden die natürlichen Impulse hemmen. „Weil ich normalerweise | |
einfach zu meiner Spielpartnerin oder meinem Spielpartner rennen würde und | |
ich jetzt weiß, dass das nicht mehr geht.“ | |
Gab es coronabedingt Konflikte? Nicht in dieser Arbeit, sagt sie, aber in | |
einer anderen. Schließlich gehe jede:r Mitspielende anders damit um, manche | |
entspannter, andere ängstlicher. | |
Nur noch ein Tag bis zur Premiere. Im E-Mail-Fach ist eine Nachricht des | |
Besucherservices. Er weist freundlich, aber bestimmt auf die geltenden | |
Hygieneregeln hin: Abstand halten, Maskenpflicht, Desinfektion, | |
Verantwortung! | |
Am 27. August ist es so weit, der inoffizielle Spielzeitauftakt, der nur | |
deshalb nicht der offizielle ist, weil „Der Kaiser von Kalifornien“ | |
eigentlich in der vergangenen Spielzeit hätte uraufgeführt werden sollen. | |
Vor der Volksbühne ist es ungewöhnlich leer. Vereinzelt stehen Leute herum, | |
nippen an ihrem Weinglas von der Freiluftbar. Statt der 824 | |
Zuschauer:innen, die normalerweise in den großen Saal passen, werden nur | |
noch 130 bis 150 eingelassen. Die Tickets für den Abend waren nach einer | |
halben Stunde ausverkauft, aber jetzt traut sich niemand, hineinzugehen. | |
Irgendwie ist einem mulmig bei dem Gedanken, in der jetzigen Lage mit | |
vielen Menschen mehrere Stunden in einem geschlossenen Raum zu sitzen. | |
Dann klingelt es, also Maske aufsetzen und drinnen erst mal orientieren, wo | |
es langgeht. Überall sind Abstandsmarkierungen aufgeklebt, für die | |
Einhaltung der Laufwege sorgt das Einlasspersonal. Mit der Jacke in der | |
Hand die Treppe rauf, eine Garderobe gibt es aus infektionstechnischen | |
Gründen nicht. | |
Im Saal fühlt es sich angenehm an, so viel Platz zu haben, aber auch | |
komisch, weil so viel frei ist. Auf der Bühne steht ein gewaltiger | |
Stahlaufbau, das Fort von Sutter. Es gibt A-cappella-Gesang und Sarah | |
Franke als Goldsucherin, die sich in Rage redet, während sie mit einer | |
Spitzhacke auf den Boden einhackt, bis das Loch groß genug ist, um darin zu | |
verschwinden. Szenenapplaus. | |
Masken sieht man auf der Bühne nicht, weil sie unter Cowboytüchern | |
verborgen sind. Aber hier und da wird man auf die Gegenwart der Pandemie | |
gestoßen: wenn die Darsteller:innen in Covid-19-Schutzanzügen auf die Bühne | |
kommen und einen grimmigen Tanz aufführen; oder wenn jemand im Publikum | |
laut hustet. Aber der Theaterhuster ist ja kein neues Phänomen. | |
Aber genießen kann man einiges an dieser Aufführung: die Westernästhetik, | |
die Stummfilmaufnahmen und Regieeinfälle wie den, dass neben zwei | |
streitenden Kopfgeldjägern der Ratgeber „Gewaltfreie Kommunikation für | |
Dummies“ liegt. Doch es ist vor allem das Komplexe und Sperrige des Abends, | |
das einem den Reiz des Theaters nach der mehr als fünfmonatigen Abstinenz | |
wieder bewusst macht: Wo sonst lassen sich Raum und Zeit, Philosophie, | |
Lyrik, Gesellschaftskritik und szenisches Spiel so miteinander verbinden? | |
Und während man noch darüber nachsinnt, wie sehr einem das alles gefehlt | |
hat, ist es schon vorbei. Applaus, Applaus, dann eine Stimme aus dem Off: | |
„Bitte verlassen Sie den Saal durch den Eingang, durch den Sie auch | |
hineingekommen sind.“ Und auf einmal ist Corona keine gelungene | |
Tanzperformance mehr, sondern wieder Alltag. | |
6 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Anna Fastabend | |
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