# taz.de -- Das Grips Theater spielt wieder: Kein Wecker, kein Frühstück | |
> Im Grips-Theater läuft das Stück „Das Leben ist ein Wunschkonzert“ von | |
> Esther Becker. Es zeigt den Alltag benachteiligter Kinder. | |
Bild: Die „Schnecken“: Regine Seidler, Marius Lamprecht und Charlotte Helen… | |
Es gibt Kinder, die sind sehr einsam. Auch schon vor Corona und den | |
Kontaktbeschränkungen. Weil sie sich schämen für ihre Familie. Weil sie | |
niemanden zu sich einladen wollen, damit keiner die vielen leeren Flaschen | |
im Flur sieht. Weil sie niemandem erklären können, was zu Hause nicht | |
funktioniert: kein Wecker, kein Frühstück, keine Eltern, die aufstehen und | |
arbeiten gehen. Sondern stattdessen ihren Alkoholrausch lautstark | |
ausschnarchen. | |
Anna ist so ein Kind, die alleine regeln muss, was eigentlich Sache der | |
Eltern wäre. Zum Beispiel die Pizza bezahlen, die ein Bote bringt. Gleich | |
am Anfang des [1][Stücks „Das Leben ist ein Wunschkonzert“], mit dem das | |
[2][Grips Theater] am Samstag wieder eröffnet hat, leert sie ihr | |
Sparschwein dafür, weil die betrunken in der Küche lärmenden Eltern nicht | |
ansprechbar sind. Am nächsten Tag wird es noch schwieriger, kann ihr denn | |
niemand helfen? Lange hat sie nur eine „zugelaufene“ Schnecke als Freundin. | |
Esther Becker gewann mit dem Text von „Das Leben ist ein Wunschkonzert“ den | |
Berliner Kindertheaterpreis 2019. Was eine tragische Sozialstudie sein | |
könnte, wird sehr spielerisch erzählt aus der Perspektive von Anna (Lisa | |
Klabunde) und einem Schneckenchor (Marius Lamprecht, Regine Seidler, Helena | |
Charlotte Sigal). Die Eltern selbst treten gar nicht auf, ihr peinliches | |
Treiben hinter der Küchentür wird nur akustisch mit leisem Flaschenklirren | |
angedeutet. | |
Auch die Schnecken lieben das Bier, obwohl sie darin ertrinken können. Die | |
Schnecken in buntem Trikot wirken sehr lustig, wenn sie von ihrer Liebe zum | |
Bier singen, ungeachtet des Wissens, dass es für sie zur tödlichen Falle | |
werden kann. Die Probleme des Alkoholismus werden so ohne moralische | |
Schuldzuweisung abgehandelt. | |
## Inszenierung von Frank Panhans | |
Die Inszenierung von Frank Panhans leuchtet grün und gelb. Ein Vorgarten | |
ist angedeutet, Wohnung und Möbel werden mit Pappen improvisiert. Die | |
Leichtigkeit des Textes bleibt; dass seine Sprachbilder oft so viel mehr | |
bedeuten als zuerst erkennbar, erschließt sich bald. | |
Doch trotz der schönen Inszenierung ist die erste Premiere, die das Grips | |
Theater nach der Coronapause zeigen kann, auch eine seltsame Angelegenheit. | |
Dreißig Zuschauer nur dürfen in den Saal im Podewil, gerade mal sieben oder | |
acht Kinder sind darunter, die in der ersten Reihe mit weitem Abstand | |
sitzen. Mehr Nebeneinander, so wie in der Schule, ist für das Theater nicht | |
erlaubt, erläutert der Grips-Leiter Philipp Harpain in einer kurzen | |
Ansprache. Vor allem aber freut er sich, dass es wieder losgeht. | |
In der Zeit der geschlossenen Theater hat das Grips unter anderem über | |
einen Blog weiter den Austausch mit dem Publikum gesucht. Als Mitte August | |
die überarbeiteten Hygieneregeln des Kultursenats für Innenräume bekannt | |
gegeben worden waren, konnte Harpain in einer Pressekonferenz vorstellen, | |
wie es weitergeht. „Über 60.000 Nutzer*innen des Blogs“ erzählte er, „h… | |
uns gezeigt: Der Wunsch nach Kultur als ein Mittel der Verarbeitung ist | |
immens. | |
Kinder und Jugendliche sind in dieser Krise lange aus dem Blick geraten. | |
Sie wurden von heute auf morgen aus dem Schulalltag entlassen und von ihrem | |
sozialen Umfeld isoliert. Kinder und Jugendliche mussten monatelang auf | |
sich gestellt mit ihren eigenen und verstärkt den Sorgen und Nöten ihrer | |
Eltern leben, den neuen Anforderungen eines digitalen Unterrichts | |
zurechtkommen, waren in ihrer Bewegungs- und Freizeitgestaltung massiv | |
eingeschränkt.“ | |
## Soziale Verantwortung der Kinder | |
Dass die Situation von Anna aus „Das Leben ist ein Wunschkonzert“ mit | |
diesen veränderten Lebensbedingungen für Kinder korrespondiert, fällt jetzt | |
besonders auf. Das [3][Kinder- und Jugendtheater] weiß schon lange davon zu | |
erzählen, wie viel soziale Verantwortung Kinder oft schon übernehmen, bevor | |
das ihrem erwachsenen Umfeld bewusst wird. | |
Die Schnecken sind ein raffiniertes erzählerisches Mittel. Sie bewegen sich | |
langsam, weit weg scheinbar von den Lasten des Alltag. Sie brechen die | |
großen Probleme auf einen Mikrokosmos zwischen Grünpflanzen herunter. Dass | |
auch ihr Leben ernsthafte Bedrohungen kennt, dafür stehen drei Begriffe: | |
Auto, Hund, Mensch. Ihre Darsteller tragen merkwürdige Requisiten als | |
Schneckenhaus, die dann aber doch sehr nützlich sind für den Rollenwandel, | |
wenn sie zu Pizzabote, Freundin und Nachbarin werden. | |
8 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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