# taz.de -- „Die Welle“ als Jungendtheaterstück: Schullektüre auf der Bü… | |
> Mit Slapstick, aber auch mit deutlich erkennbarem pädagogischen Auftrag | |
> hat das Grips Theater in Berlin „#diewelle2020“ inszeniert. | |
Bild: Es kommt zu Konflikten unter den Schülern | |
Schulklingel, Kreide, Hausaufgaben. Wie zeigt man einen Stoff, mit dem sich | |
das Zielpublikum bestens auskennt, nämlich die Schule, für die es der | |
Alltag ist und sich ein Theaterbesuch immer ein wenig nach Pflichtprogramm | |
anfühlt? Mit viel Humor und überzogener Jugendsprache. Im [1][Grips Theater | |
in Berlin] gibt es in der Inszenierung von Jochen Strauch mit | |
„#diewelle2020“ für Schulklassen Generationskomik und originellen Slapstick | |
zu sehen, um unaufdringlich zur Reflexion über soziale Strukturen | |
anzuregen. | |
Die überraschenden Momente, die etwa das spielerisch eingesetzte Bühnenbild | |
erzeugen, braucht das lange Stück. Ist dem Publikum bereits das Setting der | |
Schulsituation sehr vertraut – den folgenden Inhalt kennen die meisten hier | |
auch. Mit kleinen Anpassungen an das aktuelle Jahrzehnt und an Berliner | |
Gegebenheiten gibt „#diewelle2020“ die Geschichte des Sozialexperiments in | |
einer amerikanischen Schulkasse wieder, wie sie Todd Strasser alias Morton | |
Rhue 1984 beschrieben hat. | |
Der Roman „Die Welle“ ist seit vielen Jahren Schullektüre und wurde schon | |
oft für Theaterbühnen adaptiert. Größere Bekanntheit erreichte der Stoff in | |
Deutschland außerdem 2008, als [2][Dennis Gansel ihn gleichnamig mit Jürgen | |
Vogel] in der Hauptrolle verfilmte. | |
Einen glatzköpfigen Geschichtslehrer mit Zahnlücke gibt es im Grips nicht. | |
Stattdessen wird das Publikum von der Lehrerin Berit Rosenberg, überzeugend | |
gemimt von Katja Hiller, zur Mitarbeit motiviert. An diesem Abend befinden | |
sich die meisten Theatergäste doppelt in der Schulklassenrolle, | |
entsprechend unruhig ist der Saal. Auf dem Lehrplan einer fiktiven Berliner | |
Gesamtschule steht: Nationalsozialismus – und die Frage: Wieso haben so | |
wenige widersprochen? Antworten bekommt die charismatische, schlagfertige | |
Lehrerin nur von den im Zuschauer*innenraum verteilten | |
Schauspieler*innen. | |
## Die vierte Wand durchbrochen | |
Angesprochen sind durchgängig alle. Elegant wird im sketchartigen Stück die | |
vierte Wand durchbrochen. Die Figuren sind nicht nur durch die | |
hervorragenden schauspielerischen Leistungen des jungen Ensembles nahbar. | |
Nach erschütternden Bildern aus Konzentrationslagern diskutieren die | |
Schüler*innen der Gesamtschule. Heute, im weltoffenen Berlin, könnte | |
eine Diktatur nicht mehr entstehen, sind sie sicher. Rosenberg startet | |
daraufhin ein Experiment mit ihrer Klasse – zunächst mit leichten | |
Disziplin- und Atemübungen, mit Handyverbot, schließlich gibt es für den | |
Gemeinschaftssinn Parolen und Symbole. „Stärke durch Disziplin, Kraft durch | |
Gemeinschaft, Macht durch Handeln“ wird mantramäßig geflüstert, gesungen, | |
geschrien. Ein geheimer Gruß schweißt die Gruppe weiter zusammen, „die | |
Welle 2020“ ist geboren. | |
Wie in der Buchvorlage, ist das, vor der dramatischen Zuspitzung, alles | |
nett anzusehen: Außenseiter gehören plötzlich dazu, Teamgeist euphorisiert, | |
die Lehrerin freut sich über Schulengagement und Anerkennung ihrer Person. | |
In der Grips-Version wird eine Gesangseinlage von Jürgen Paapes „So weit | |
wie noch nie“ auf herumwirbelnden Schultischen vom jugendlichen Publikum | |
mit Kichern und hochgezogenen Augenbrauen rezipiert. Das häufig mit | |
elektronischen Beats unterlegte und optisch abwechslungsreiche Stück | |
schafft es trotz Handyverbot mit verstohlen gezückten Smartphones in ein | |
paar Instagram-Postings. | |
## Sprachlich nicht überzeugend | |
Stichwort Instagram-Likes, Fridays-for-Future-Verweise und geheime | |
WhatsApp-Chats – das ist, was für den Sound von 2020 steht, gemischt mit | |
„Ey, wo war noch gleich der Bus mit Leuten, die das interessiert?“. In der | |
Soziolinguistik heißt es, Jugendsprache funktioniere so lange, [3][bis | |
Erwachsene versuchen, sie zu verstehen] und nachzuahmen. | |
Sprachlich überzeugt das Jugendtheaterstück nicht immer, fragt man | |
Schüler*innen, bemängeln sie die Länge mancher Szenen. Doch es bietet | |
einen Anstoß, um über Rechtsextremismus und Mobbing zu diskutieren. Den | |
pädagogischen Auftrag nimmt das Grips nicht nur durch die Stückwahl ernst. | |
Im Anschluss an einige Vorstellungen von „#diewelle2020“ wird es einen | |
Dialog mit dem Verein „Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland e. | |
V.“ und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus geben. | |
Denn am Ende des Experiments steht eine Gruppendynamik, die Angst macht, | |
ein Kind mit Migrationshintergrund wird verprügelt. „Ist uns Demokratie zu | |
anstrengend geworden? Was ist die Alternative?“, fragt Berit Rosenberg | |
mahnend ins Publikum. | |
26 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!5600410&s=Grips+Theater&SuchRahmen=Print/ | |
[2] /Archiv-Suche/!5185304&s=Welle+Vogel+Dennis+Gansel/ | |
[3] /Jugendwort-des-Jahres-wird-abgeschafft/!5631574 | |
## AUTOREN | |
Linda Gerner | |
## TAGS | |
Experiment | |
Faschismus | |
Soziale Bewegungen | |
Lüneburg | |
Theater | |
Theater Berlin | |
Gesellschaftliche Teilhabe | |
Grips Theater | |
Schwerpunkt Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Drama „#diewelle 2022“ in Lüneburg: „Es geht jeden an“ | |
Ganz auf Nähe setzt die Dramatisierung von Morton Rhues „Die Welle“. Im | |
Lüneburger e-novum wird sie von Jugendlichen gespielt. | |
Theater in der Pandemie: Zeitreise am Schreibtisch | |
Wie begeistert man Menschen in den eigenen vier Wänden für | |
Kunsterfahrungen? Das Projekt „1000 Scores“ setzt auf Mitmach-Theater und | |
Selbstreflexion. | |
Berliner Theaterautorin Esther Becker: Die Möglichkeiten einer Geschichte | |
Von Kindern, die vergessen wurden oder allein auf weiter Reise sind, | |
erzählt Esther Becker. Eines ihrer Stücke sollte gerade im Grips Premiere | |
haben. | |
Benachteiligte Jugendliche abholen: Am Anfang war Theater | |
Mit dem Projekt „Theater – Ja!“ arbeiten Schulen und Theater in Bremerhav… | |
erfolgreich an der gesellschaftlichen Teilhabe | |
50 Jahre Grips-Theater: „Eltern sind nicht das Problem“ | |
Ein Gespräch mit Grips-Gründer Volker Ludwig und Regisseur Vassilis | |
Koukalani über alte und neue Stücke, Ironie und das kreative Potenzial der | |
Krise. | |
Jugendtheaterfestival in Berlin: Ein Asyl für die Puppen | |
Wie lernt man Mitbestimmung? Wie übt man Empathie? Das Festival „Augenblick | |
mal!“ für Jugendtheater verhandelt in Berlin ernste Themen. |