Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Berliner Theaterautorin Esther Becker: Die Möglichkeiten einer Ges…
> Von Kindern, die vergessen wurden oder allein auf weiter Reise sind,
> erzählt Esther Becker. Eines ihrer Stücke sollte gerade im Grips Premiere
> haben.
Bild: Geht in ihren Stücken von Situationen, Figuren, Geschichten aus: Esther …
Esther Becker hat ein bisschen Glück gehabt. Ihr Stück „Mimosa“ über eine
junge Pilotin, die sich an ihrem 30. Geburtstag mit heftigen Erfahrungen
von Verlust auseinandersetzen muss, wurde im Februar im kleinen Sogar
Theater in Zürich uraufgeführt. Das Ballhaus Ost in Berlin nahm Ende
Februar ihre Soloperformance „The Bitter End“ wieder auf, die von den
Unwägbarkeiten des Lebens als Künstlerin erzählt und dabei jene Formen
austestet, die das Erzählen mit scheinbar biografischer Glaubwürdigkeit
aufladen.
Beides ging noch gut über die Bühne, bevor die Theater wegen des Schutzes
vorm Coronavirus schließen mussten. Aber Esther Becker hat auch etwas Pech.
Für den 26. März war die Uraufführung ihres Stückes [1][„Das Leben ist ein
Wunschkonzert“ im Grips Theater] geplant, es war auch schon eingeladen zu
den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Doch die Premiere ist jetzt erst mal
verschoben, die Ruhrfestspiele im Mai und Juni sind bereits abgesagt.
Alle zwei Jahre lobt das Grips Theater zusammen mit der Gasag den Berliner
Kindertheaterpreis aus. Er ist zuerst mit einem Stipendium und Workshops
des Grips verbunden, in denen eine kleine Gruppe von ausgewählten
Autor:innen an ihren Stückentwürfen arbeitet. Der Gewinnerentwurf erhält
dann ein Preisgeld und eine Uraufführung im Grips.
Für Esther Becker war es schon toll, an diesen Workshops teilzunehmen, und
erst recht, den Preis zu gewinnen. Das Grips liebte sie als Kind, ihr Vater
ging mit ihr hin, wenn sie ihn in Berlin besuchte. Sie selbst wuchs in
Ratingen bei Düsseldorf auf und zog das erste Mal nach dem Abitur nach
Berlin.
Auch wenn es für Esther Becker als Theaterautorin gerade ganz gut läuft,
bauen kann man darauf nicht. Das Café in Neukölln, in dem wir uns noch vor
der coronabedingten Schließung aller Lokale treffen, kennt sie gut, weil
sie dort auch schon gearbeitet hat. Jobs im Buchhandel, bei der Berlinale,
früher auch als Schauspielerin – wer Kunst macht, braucht da eine große
Flexibilität. Da trifft es natürlich alle Künstler:innen bitter, dass jetzt
auch viele notwendige Nebenjobs wegfallen.
## „Studiersüchtig“ nennt sie sich selbst
Heute ist Esther Becker 39. Sie hat zuerst Schauspiel studiert, aber auch
da schon gemerkt, dass ihr Interesse an eigenen Texte größer war als das an
der Interpretation der Stücke von anderen. In der Schweiz, in Bern, wurde
der neue Masterstudiengang Scenic Arts Practice eröffnet, der ihr eine
Orientierung Richtung Schreiben und Dramaturgie ermöglichte.
„Studiersüchtig“ nennt Becker sich selbst, weil sie dann noch Literarisches
Schreiben in Leipzig absolvierte. Seitdem habe sie sich „Studierverbot“
verordnet. Aber sie arbeitet auch schon lange theaterpraktisch, hat mit dem
[2][Regieduo BigNotwendigkeit von Anna K. Becker und Katharina Bischoff]
mehrere Projekte gemacht als Autorin, Performerin und in anderen
Funktionen. Und ja, Anna K. Becker ist ihre Schwester.
Ihre Stücktexte lesen sich sehr gut. In knappen Dialogsätzen werden Figuren
und Situationen skizziert, die oft etwas Verblüffendes, Kurioses haben, das
sich dann aber als sinnfällig erweist.
Zuerst habe ich „Wildbestand oder Von einer, die auszog, eine Zukunft zu
finden“ gelesen, ein noch nicht aufgeführtes Stück für Kinder ab acht, das
beim Heidelberger Stückemarkt mit einem Preis ausgezeichnet wurde. In
„Wildbestand“ erzählen drei Kinder – Greta, 7, Hannes, 9, und Dina, die
vielleicht aber gar nicht so heißt – zusammen ihre Geschichte, deren Ende
offen ist. Dass sie gemeinsam rekonstruieren, wie es gewesen sein könnte,
verleiht dem Geschehen etwas Schwebendes.
Die Kinder lernen sich in einem Baumhaus kennen, das Greta und Hannes
eigentlich für ihres hielten, bis Dina sich darin eingerichtet hat. Greta
und Hannes, die mit ihrer Mutter bisher im Forsthaus wohnten, sollen
umziehen, und Stück für Stück entzieht die Mutter ihnen die vertraute
Umgebung, packt die Betten ein – wo sollen sie schlafen? –, packt die Küche
ein – was sollen sie essen? –, vergisst die Kinder schließlich beim Umzug.
Unglaublich eigentlich, die Geschichte, aber nach und nach merken die
Kinder und merken sicher auch die Zuschauer, dass Dina, die Namenlose, in
einer ähnlichen, aber viel extremeren Situation ist, unterwegs ohne
elterlichen Schutz, ohne zu wissen, wo sie schlafen kann, was sie essen
kann. Und man weiß, dass dies Kindern unter den Geflüchteten vielfach so
geschieht.
Dina: „Vielleicht habe ich gesungen / Die ersten Kilometer / Um lauter zu
sein als meine Angst / Ich bereute es später / Als es Abend wurde / Und
meine Stimme weg war. // Ich sollte das nicht erzählen. // Bleib stumm /
Stell dich dumm. // Ich habe Krümel gestreut / Die ersten Kilometer / Und
ich bereute es später / Als es Abend wurde und ich hungrig / Da das Brot
alle war.“
## Viel Realität und auch Wunderbares
Dina ist nicht zu fassen, sie erzählt ihre Geschichte aus strategischen
Gründen immer wieder anders, sie muss sie ändern, um Verfolgung zu
entgehen. Ihr Erfahrungshorizont reicht weit über den von Hannes und Greta
hinaus; aber er hat auch etwas Märchenhaftes, etwas von „Hänsel und
Gretel“. Wie die drei Kinder sich anfreunden und zusammen die Situation des
Auf-sich-gestellt-Seins zu meistern beginnen, ist eine Abenteuergeschichte
mit doppeltem Boden. Es liegt ebenso viel Realität wie Wunderbares in dem
Stück.
Das gilt auch für „Das Leben ist ein Wunschkonzert“. Am Anfang ist die
Verwunderung groß: Warum singt ein Schneckenchor hier? „Vier. Reimt sich
auf Bier. Bier. Das lieben wir.“ Warum behaupten sie, sie seien vier? Man
sieht nur drei. Warum lieben sie Bier? Was zuerst lustiger Nonsens zu sein
scheint, entpuppt sich nach und nach als eine Spiegelung eines sehr
schmerzhaften Geschehens. So, wie die Schnecken das Bier lieben, obwohl sie
in der Bierfalle in einen schrecklichen Tod geraten, so lieben auch die
Eltern des Mädchens Hannah den Alkohol, obwohl sie damit ihr ganzes
soziales Leben zerstören. Hannah kämpft einen einsamen Kampf, bis sie Hilfe
bekommt.
Man kann sich das Stück am Grips gut vorstellen, es wird hier ja oft aus
der Perspektive der Kinder erzählt. Im Workshop, der dem Stück vorausging,
war das Schreiben für Kinder ab fünf eine Vorgabe, aber, sagt Esther
Becker, sie kann immer nur so schreiben, wie sie eben schreibt. Tatsächlich
waren die Schnecken zuerst da, als es in ihr zu arbeiten begann, der
Konflikt um ein einsames Kind kam erst nach und nach hinzu. Was ihr beim
Schreiben von Jugendtheaterstücken aber gefällt, ist, den Fokus auf das zu
legen, was Kinder eben noch können und Erwachsene nicht mehr.
Ansonsten aber mache es, so meint die Autorin, für sie keinen Unterschied,
ob sie für Kinder oder Erwachsene schreibe. Sie orientiert sich nicht an
Themen, nicht an Pädagogik oder einer Botschaft, was man ihren Texten sehr
wohltuend anmerkt. Sondern sie geht von Situationen, Figuren, Geschichten
aus.
„Mimosa“, was für ein Name für ein Stück und für eine junge Frau. Mimosa
ist Pilotin, der irgendwo über dem Atlantik ihr Gefühl für die Zeit und den
Ort abhandengekommen ist. Sie träumt von ausgefallenen Zähnen und
ausgefallenen Haaren. Sie verliert eine Freundin und eine Katze, sie irrt
ohne Wohnung durch die Stadt. Drei Tage begleitet das Stück sie, und was
anfangs völlig absurd ist, erklärt sich nach und nach aus ihrer Geschichte
und der ihrer Mutter. So wird die Vagheit, das unheimliche Gefühl, sich
selbst nicht zu kennen und nicht mehr zu wissen, warum man da ist, wo man
ist, sehr plastisch.
Wie auch in ihren anderen Stücken stehen die Monologe und Dialoge in
schmalen Textsäulen auf dem Papier. Szenische Anweisungen braucht Esther
Becker kaum, alles entwickelt sich aus den gedachten und gewechselten
Sätzen, knapp und lakonisch lassen sie Bilder im Kopf entstehen und
erzeugen eine erstaunliche Nähe zu den Figuren.
28 Mar 2020
## LINKS
[1] http://www.grips-theater.de/programm/spielplan/produktion/603
[2] http://bignotwendigkeit.com/
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Theater Berlin
Grips Theater
Theaterstück
Experiment
Grips Theater
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Die Welle“ als Jungendtheaterstück: Schullektüre auf der Bühne
Mit Slapstick, aber auch mit deutlich erkennbarem pädagogischen Auftrag hat
das Grips Theater in Berlin „#diewelle2020“ inszeniert.
Grips Theater feiert Jubiläum: 50 Jahre befreiendes Lachen
Viele Kinder haben hier gelernt, dass sie stark sind und Erwachsene nicht
immer recht haben: Das Grips Theater hat seine revolutionäre Kraft
behalten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.