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# taz.de -- Theater in der Pandemie: Zeitreise am Schreibtisch
> Wie begeistert man Menschen in den eigenen vier Wänden für
> Kunsterfahrungen? Das Projekt „1000 Scores“ setzt auf Mitmach-Theater und
> Selbstreflexion.
Bild: 1000 Scores? bislang sind weniger online, aber es werden laufend mehr
Alleine in meinem Zimmer vor meinem Computer zu sitzen ist etwas, das ich
in dieser jetzt schon [1][ein Jahr andauernden Coronapandemie] in meiner
Freizeit nicht mehr tun möchte. Im selben Raum, im selben Stuhl, in
ähnlicher Pose, hocke ich stundenlang für die Arbeit. Habe ich wirklich
früher um Homeoffice gebettelt? Wenn ich frei habe, möchte ich rausgehen,
den hundertsten Spaziergang des Monats machen, Sport treiben, Freundinnen
und Familie anrufen, Musik hören oder lesen. Alles am liebsten offline.
Aber natürlich fehlt mir das Theater. Und das hat gezwungenermaßen den Weg
ins Digitale gesucht. Also klicke ich aus einem Pflichtgefühl heraus auf
das [2][Online-Theaterprojekt „1000 Scores – Pieces for Here, Now &
Later“]. Wieder Kunst online aus meinem Zimmer betrachten. Na gut.
Die Theaterschaffenden Helgard Haug, David Helbich und Cornelius Puschke
haben aufgrund der limitierten Theatermöglichkeiten in der Pandemie
Künstler*innen, Perfomer*innen und Musiker*innen aus aller Welt
gebeten kurze Beiträge für ein Online-Publikum zu verfassen. Diese nennen
sich [3][„Scores“] und verbergen sich auf der Webseite www.1000scores.com
hinter kleinen Fotokacheln, auf die die Besucher*innen
interessengeleitet klicken können. Laufend kommen neue Scores von
Künstlerinnen hinzu, bislang sind mehr als 70 Scores online. Hinter den
Fotokacheln befinden sich Gedichte, Skizzen, Bilder und Texte. Und vor
allem: Handlungsaufforderungen. Denn dieses Theatererlebnis ist mal wieder
interaktiv.
Die erste Kachel, auf die ich klicke, fordert mich direkt zu etwas
Wunderbarem auf: Mir einen heißen Kaffee zu kochen. [4][„Coffee with Those
You Can’t Meet Again“] von dem sudanesischen Künstler Husam Hilali
überzeugt mich spätestens ab dem Satz „If you are not a coffee drinker
please take the extra mile and try to drink it only for the purpose of this
score.“ Viel zu oft wird man schließlich aufgefordert, weniger Kaffee zu
trinken.
Kaffee alleine in Gesellschaft
Mit heißem Milchkaffee sitze ich also ein paar Minuten später wieder vor
meinem Computer. Husam Hilali erzählt zunächst die Geschichte eines
japanischen Cafés mit dem Namen Funiculi Funicula. Auf einem einzigen Stuhl
in diesem Café, so schreibt er, konnte man in der Zeit zurückreisen, um
einen Kaffee mit einer bereits verstorbenen Person zu trinken. Die
Zeitreise endete, wenn der Kaffee leer ist. Ist der Kaffee jedoch kalt,
bevor er zu Ende getrunken wurde, verwandele sich die Person in einen
Geist.
Nach Tokio zu fliegen, ja, sogar ein Café – irgendein Café – zu besuchen,
wäre in der aktuellen Zeit schwer zu realisieren. Doch eine Zeitreise
ermöglicht mir Husum Hiali auch an meinem Schreibtisch. Ich werde gebeten,
mir ein altes Fotobuch zu holen und mir die Bilder genau anzusehen. Welcher
der fotografierten Personen ist bereits verstorben? Ich blättere durch alte
Kinderbilder. Stolz präsentierte Zahnlücken von meinen Brüdern und mir,
Urlaubsfotos, die sehnsüchtig nach Strand und Meer machen. Mich durchströmt
eine große Dankbarkeit, dass ich erkennen darf, dass die Einzigen nicht
mehr Lebenden auf den Bildern meine Oma ist und mein Hund.
Nach Anweisung von Hilali darf ich nun endlich an meinem Kaffee nippen. Ich
schnappe mir mein Aufnahmegerät und soll mir vorstellen, dass ich meine Oma
im Café Funiculi Funicula treffe. Ich lehne mich zurück und versuche mich
zu erinnern: An den ersten Eindruck von ihr. Ob ich mal etwas Schlimmes zu
ihr gesagt habe, welche unsere unangenehmste gemeinsame Situation war.
Danach soll ich mich fragen, ob ich bereit bin zu vergeben. Ob ich letzte
Worte habe, die ich an meine Oma richten würde. Und: wenn der Stuhl im
Funiculi Funicula gerade frei wäre – würde ich ihn einnehmen? Hätte ich den
Wunsch, diese Zeitreise zu machen?
Husum Hilali schafft es mit seinem Score, dass man das eigene Zimmer
gedanklich verlässt. Die Zeit verfliegt, man versetzt sich in die alten
Fotos hinein. Irgendwann ist der Kaffee leer, ich räuspere mich und
speichere meine Sprachmemo. Neugierig klicke ich weitere Kacheln an. Mal
soll ich Musik abspielen und tanzen, dann lese ich mir laut ein Gedicht von
der deutsch-italienischen Schriftstellerin Maxi Obexer vor. Die Scores sind
so vielfältig wie die Künstler*innen die dahinterstecken. Will man mehr
über die Menschen hinter den Scores erfahren, leitet die Webseite weiter
auf deren Künstler*innenseiten – schon hat man noch mehr zu schauen
und lesen.
Häufig fordern die Scores dazu auf, sich selbst zu reflektieren. Bewusst zu
atmen, schauen oder hören oder sich selbst Fragen zu beantworten. Nicht
alle Aufgabenstellungen finde ich interessant, nicht auf alle habe ich
gerade Lust. Dann klicke ich einfach weiter.
Gleich mehrfach spiele ich das Video hinter der Kachel mit dem Titel
[5][„Chaos Choir“] ab. Künstlerin Asa Berenzy aus Kanada hat 13 Menschen
gebeten, auf eine von ihrer vorgegebenen Melodie zu singen, wie sich gerade
fühlen und daraus ein Chorstück gebastelt. Was die einzelnen Personen
singen, versteht man nicht wirklich. Doch es tut seltsam gut – und ist
witzig – andere Menschen in ihren Zimmern sitzen zu sehen und – mal
inbrünstig, mal sanft – vor sich hinsingen zu hören.
Natürlich steht auch hinter diese Kachel wieder die Aufforderung, selbst
mitzusingen. Ja, wie fühle ich mich denn gerade? Sicher immer noch
pandemiemüde. Aber die „1000 Scores“ haben mich heute erfolgreich
abgelenkt. Trotz eingehaltener Distanz war an dieser Theatererfahrung
nichts distanziert. Noch habe ich lange nicht alle Kacheln entdeckt. Aber
dafür gibt es ja Online-Lesezeichen.
21 Apr 2021
## LINKS
[1] /Corona-macht-depressiv/!5763045
[2] https://1000scores.com/
[3] /Internet-Projekt-1000-Scores/!5760567
[4] https://1000scores.com/portfolio-items/husam-hilali-coffee-with-those-you-c…
[5] https://1000scores.com/portfolio-items/asa-berezny-chaos-choir/
## AUTOREN
Linda Gerner
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