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# taz.de -- Abschied von der Sammlung Flick: In den Kaninchenbau
> Die Kunst tanzt nach ihrem eigenen Takt in der Schau „Magical Soup“ im
> Hamburger Bahnhof in Berlin. Sie ist ein Abschied von den Rieck-Hallen.
Bild: Pipilotti Rist, Extremitäten (weich, weich), 1999, Still, Staatliche Mus…
Friedrich Christian Flick begründete 2003 die Entscheidung, seine Sammlung
zeitgenössischer Kunst an den Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart zu
bringen, so: „Berlin ist noch verwirbelt, hat sich noch nicht gesetzt.
Insofern ist die Kunst, die ich sammle, vergleichbar mit dieser Stadt. Sie
ist zerrissen, vernarbt, weniger schön als interessant, voller
Widersprüche, aber sehr intensiv.“ Damit lieferte er zugleich eine valide
Beschreibung der Medien- und zeitgenössischen Kunst überhaupt. Und über
deren erkleckliche Bruttogesamtfläche erstreckt sich auch seine Sammlung.
Das Museum und Kuratorin Anna-Catharina Gebbers zeigen nun Teile davon noch
einmal in der Ausstellung „Magical Soup“. Manche vielleicht das letzte Mal:
[1][Denn was Berlin betrifft, zieht Flick aus.]
Das ist nur eine von mehreren Fronten, an denen der Hamburger Bahnhof zu
kämpfen haben wird. Die Kündigung von Udo Kittelmann, seit 2008 Direktor
der Nationalgalerie, zu der das Museum gehört, mündet in wenigen Wochen in
dessen Ausscheiden aus dem Dienst. Die darübergespannte Stiftung
Preußischer Kulturbesitz befindet sich seit dem diesjährigen Gutachten in
den ersten Zügen einer langwierigen Neustrukturierung. Und natürlich spielt
auch die Pandemie in dem Geschäft mit.
## Verlust der großen Rieck-Hallen
Ein Jahr nach dem Verkauf des Geländes, auf dem die zum Museum gehörigen
Rieck-Hallen stehen, zementierte Flick die Beziehung zur Nationalgalerie
noch mit einer umfangreichen Schenkung. Die Immobiliengesellschaft, an die
das Grundstück ging, will aber nun, dass es Teil der „Euro-City“ rund um
den Berliner Hauptbahnhof wird. Das veranlasste Flick dazu, die Sammlung in
die Schweiz zurückzuholen.
Ein herber Verlust, sind sich die Feuilletons einig. Zwar stimmt das in
Bezug auf die Berliner Kulturlandschaft. Mit den politischen Hintergründen
der Sammlung verhält es sich anders, anfangs erfuhr sie viel Kritik, wurde
sie doch auch aus Geld angekauft, das zur NS-Zeit mit Zwangsarbeit
erwirtschaftet wurde. Der Leihvertrag mit Berlin wurde auch als Instrument
der Imageverbesserung gelesen. Flick zahlte später in einen
Zwangsarbeiter-Fonds ein, und die Rezeption beschäftigte sich immer mehr
damit, dass die Sammlung hochkarätig ist.
Fest steht, dass die Sammlung geht. Mit dieser Vorahnung kommt der Besucher
also nicht umhin, „Magical Soup“ auch als Abgesang zu lesen. Und zu hören.
Denn die 49 in den dunklen Industriehallen gezeigten Werke haben vor allem
ein besonderes Verhältnis zum Ton, zur Musik und zur Zeitlichkeit.
Anna-Catharina Gebbers fügte die Bestände der Nationalgalerie, die
Flick-Sammlung und Leihgaben zu einem Reigen aus Nam June Paik, Pipilotti
Rist, Ulrike Rosenbach und weiteren Künstlern zusammen, der in seinem
eigenen Takt tanzt.
Mal gibt ihn das mechanische Knipsen eines Projektors vor, mal im Görlitzer
Park singende Kinder. Aber innerhalb der Hallen entkommen die
Besucher:innen ihm nicht. Wo die titelgebende magische Suppe auch auf Lewis
Carrolls „Alice im Wunderland“ referenziert, geraten die Besucher:innen in
die Rolle der Protagonistin, die sich in den Kaninchenbau vorwagt. Und,
ausreichend Übermut vorausgesetzt, auch hineinstürzt.
## Stan Douglas als Prolog
Die Schau beginnt mit zwei analog auf voller Wandbreite projizierten
Videos. „Breath and Mime“ des [2][Kanadiers Stan Douglas] erinnert daran,
dass auch ein Film aus Einzelbildern besteht, und auch Musik immer von
Bildern begleitet ist. Zu Robert Johnsons „Preachin’ Blues“ zeigt er Dias
seines eigenen Mundes, der in Einzelbildern die Phoneme des Songs
wiedergibt.
Auf die Frage hin, ob sie eine Lieblingsarbeit hätte, sagt Gebbers
enthusiastisch, sie möge sie alle. Aber es wäre ihr besonders wichtig
gewesen, „Breath and Mime“ aus der Flick-Sammlung dabeizuhaben, und an den
Anfang zu stellen. Das Werk stimme darauf ein, was folgt. Das ist Cyprien
Gaillards Montage „Artefacts“ aus dem Jahr 2011. Per iPhone gefilmt und auf
35mm-Film migriert, stellt Gaillard Sequenzen aus dem Berliner
Pergamon-Museum neben Aufnahmen aus den letzten Monaten der Besetzung des
Iraks. Begleitet von Soldaten untersucht er dort mit seiner Kamera die
Artefakte der Wüste, zivile und militärische Architekturen, zerstörte
babylonische Statuen.
Die Tonspur dazu ist ein säuselnd melancholischer Loop aus David Greys
„Babylon“, das auch Teil der „Torture Tapes“ war, die in Guantanamo Bay…
Einsatz kamen. Gaillard konnte nicht wissen, dass die Besetzung bald vorbei
sein würde, und dass Mobiltelefone und Terrorismus noch eine ungleich
engere Verbindung erfahren würden. Wie imposant und berührend die
Videoarbeit heute ist, geht darauf zurück.
Schon im Vietnamkrieg setzten die amerikanischen „Psy-Ops“ Töne als
militärische Waffe ein. In Sung Tieus „No Gods, No Masters“ wird als einer
von vier Audio-Kanälen das „Ghost Tape No. 10“ ausgestrahlt, das
Vietcong-Kämpfer verunsichern sollte.
## Die Lautsprecher hallen ineinander
So verschwimmen die Töne in „Magical Soup“ zu einem Narrativ, das immer
auch politische Dimensionen hat. Buchstäblich: Die Lautsprecher hallen
ineinander. Aufgrund der Pandemievorschriften wurde das Einsetzen von
Kopfhörern unmöglich. Das ist besonders schade, wenn etwa [3][Douglas
Gordon] auf einem Teppichläufer liegend Lou Reed und The Velvet Underground
singt, einen Walkman auf den Ohren, und Besucherinnen und Besucher es ihm
auf dem selben, davor drapierten Teppich nicht gleich tun können.
Dieser Kaninchenbau ist sehr verästelt. Das geht nicht nur auf die lange
Gesamtspielzeit der Videoarbeiten zurück, sondern auch auf die kuratorische
Arbeit: So fand das Team um Gebbers etwa im Zuge der Recherchen in den
Manuals der Künstler und den Archiven heraus, dass eine bereits seit Jahren
im Museum gezeigte Installation von Nam June Paik ursprünglich in einer
anderen Vitrine vorgesehen war. Für die Ausstellung versetzte es „I Never
Read Wittgenstein (I Never Understood Wittgenstein)“ in den
Originalzustand. „Aber natürlich hatte Paik Wittgenstein verstanden“, sagt
die Kuratorin angesichts des Titels.
Nicht alle ausgestellten Werke sind zeitbasiert, und nicht alle haben einen
eigenen Sound. Sie müssen mit dem auskommen, der von anderen
herüberstrahlt. Und mit der Vorstellung. Die für den Turner-Preis
nominierte UdK-Professorin Nicole Wermers kreierte mit ihrer Installation
„The Violet Revs“ gar eine fiktive, unsichtbare Frauen-Bikergang, indem sie
Lederjacken mit billigen Stapelstühlen zu einer Szene zusammenführte. Es
scheint, als wären die Besitzerinnen, die offensichtlich Megadeth und
Fuchsschweife gut finden, zum Rauchen vor die Tür gegangen.
Währenddessen wird nebenan Wagners „Parsifal“ zum Besten gegeben. Für all
diese Polyvalenzen ist es hilfreich, einige Vorurteile an der Garderobe zu
lassen. Dann darf dieser Abgesang überreich statt schief gesungen sein:
Weniger schön als interessant, voller Widersprüche, aber sehr intensiv.
Auf Nachfrage erzählt Gabriele Knapstein, seit vier Jahren Leiterin des
Hamburger Bahnhofs, dass man nicht daran geglaubt habe, jemand könne dem
Museum mit den Rieck-Hallen den Boden entziehen. Dass momentan dennoch die
Weichen so gestellt sind, dieses Vertrauen in die Zukunft des Museum zu
enttäuschen, ist tieftraurig. „Magical Soup“ lädt mit melancholischem Gla…
dazu ein zu vermissen, was hier nicht mehr passieren wird.
7 Sep 2020
## LINKS
[1] /Rueckschlag-fuer-Berliner-Museen/!5678415
[2] /Kleine-Utopien-in-der-Videokunst/!5643931
[3] /Archiv-Suche/!289053&s=Douglas+Gordon&SuchRahmen=Print/
## AUTOREN
Christopher Suss
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