# taz.de -- Kleine Utopien in der Videokunst: Die Geschichte wird reicher | |
> Der Künstler Stan Douglas ist als diskreter Schnittmeister von montierten | |
> Welten zu erleben. Zu sehen in der Julia Stoschek Collection Berlin. | |
Bild: Die Schlagzeugerin Kimberly Thompson erzeugt den Takt, aus „Luanda-Kins… | |
Der Groove stimmt. Auf der Leinwand zu sehen sind dazu die beteiligten | |
Musiker: eine Schlagzeugerin, ein Bassist, zwei Gitarristen, zwei | |
Keyboarder, zwei Perkussionisten und ein Saxofonist. Das neunköpfige | |
Ensemble spielt eine Mischung aus Fusion, Disco und Afrobeat, rollender | |
Funk mit komplex verschachtelten Rhythmen. Sechs Stunden und eine Minute | |
lang. | |
Wie in einem Tonstudio sitzen und stehen die Musiker mit einigem Abstand | |
voneinander verteilt, die Kamera wechselt von einem zum anderen, nimmt mal | |
zwei, auch drei von ihnen auf einmal in den Blick. Doch der Bildausschnitt | |
bleibt stets so nah, dass nie alle Beteiligten gleichzeitig zu sehen sind. | |
Der Grund dafür ist einfach: Die Studiosession, die man in der Arbeit | |
„Luanda-Kinshasa“ des kanadischen Künstlers Stan Douglas sehen kann, hat so | |
nie stattgefunden. Oder genauer gesagt: Statt einer Session waren es zwei, | |
bei denen jeweils eine Hälfte der Musiker spielte. Und keine der Sessions | |
dauerte volle sechs Stunden. | |
## Kimberly Thompson ist die Taktgeberin | |
Aus dem dabei entstandenen Material schnitt Stan Douglas das schier endlos | |
scheinende Stück zusammen, das im Video zu hören und wie eine Art intimes | |
Konzertdokument zu erleben ist. Alles konstruiert, Bild wie Musik, bloß so, | |
dass man davon nichts mitbekommt. Die „Band“ um den Pianisten Jason Moran | |
hat dieser sogar eigens für das Projekt zusammengestellt, darunter die | |
Schlagzeugerin Kimberly Thompson, die zuvor etwa mit Béyoncé | |
zusammengearbeitet hat und die für die anderen Kollegen bei den Aufnahmen | |
buchstäblich den Takt vorgab, sodass sich das Material überhaupt im selben | |
Tempo sinnvoll kombinieren ließ. | |
[1][Stan Douglas imaginiert] mit dieser Arbeit von 2013 eine mögliche | |
Richtung, die der Musiker Miles Davis nach dem seinerzeit wenig | |
erfolgreichen, heute aber als visionär gefeierten Fusion-Album „On the | |
Corner“ aus dem Jahr 1972 hätte einschlagen können: Was, wenn sich Miles | |
Davis damals von einer Platte wie Manu Dibangos Afrobeat-Fusion-Album „Soul | |
Makossa“ hätte inspirieren lassen? | |
„Luanda-Kinshasa“ skizziert als mögliche Antwort einen alternativen Verlauf | |
der Musikgeschichte, lässt ihn, für die Dauer von sechs Stunden zumindest, | |
filmische Wirklichkeit werden, als Endlos-Jam. Wenn auch ohne Miles Davis. | |
Die Kostümierung jedenfalls ist bestens auf die fiktive Entstehungszeit der | |
Musik abgestimmt, man trägt bunt gemusterte Hemden und Schlaghosen. | |
## Auf den Einsatz warten | |
„Luanda-Kinshasa“ ist derzeit in der Ausstellung „Splicing Block“ in der | |
[2][Julia Stoschek Collection Berlin] zu sehen. Die Bezeichnung „splicing | |
block“ stammt aus der Filmtechnik, man verwendet diese Geräte, um „Spleiß… | |
herzustellen, Klebstellen beziehungsweise Schweißnähte, mit denen Teile | |
eines analogen Films beim Schnitt verbunden werden. Und die Idee des | |
Auseinandernehmens und Zusammenfügens bildet in den präsentierten Arbeiten | |
von Douglas durchaus eine übergeordnete Klammer. | |
So zeigt „Hors-champs“, die andere dargebotene Videoarbeit, eine weitere | |
Jazz-Session. Diesmal ist es der ebenfalls fiktive Auftritt Albert Aylers | |
im französischen Fernsehen der sechziger Jahre, als dort Programme wie | |
„Modern Jazz at Studio 4“ liefen. In Schwarz-Weiß sieht man ein Quartett | |
aus Saxofon, Posaune, Kontrabass und Schlagzeug. Sie spielen Aylers | |
Free-Jazz-Stück „Spirits Rejoice“, in dem auch die „Marseillaise“ ankl… | |
Den Saxofonpart Aylers übernimmt im Video der Musiker Douglas Ewart, der | |
Posaunist an seiner Seite ist George Lewis. | |
„Hors-champs“, 1991 im Pariser Centre Pompidou mit zwei Kameras gefilmt, | |
besteht aus zwei Projektionen, die auf dieselbe Leinwand geworfen werden. | |
Auf der einen Seite ist der „offizielle“ Teil des Materials zu sehen, die | |
Bilder, die im Fernsehen höchstwahrscheinlich zu sehen gewesen wären, wenn | |
es diese „Fernsehsendung“ gegeben hätte. Auf der Rückseite ist der | |
„Ausschuss“ zu sehen, Einstellungen, in denen versehentlich schon mal der | |
Bauch von George Lewis ohne dessen Kopf auftaucht, oder eine Aufnahme des | |
Saxofonisten, wie er während eines Kontrabasssolos fast ungeduldig auf | |
seinen Einsatz wartet. | |
## Außerhalb des Bildfeldes | |
Der Begriff „hors-champ“ stammt aus den Filmwissenschaften, bezeichnet den | |
Teil des Bildraums außerhalb des Bildfelds, mithin das, was die Kamera | |
gerade nicht zeigt. Hier führt Douglas fast schon didaktisch vor, wie | |
dieser Ausschluss des Gezeigten funktioniert: Wer die Vorderseite der | |
Leinwand betrachtet, bekommt nicht mit, was auf der Rückseite geschieht. | |
Beide Formen der fantastischen Historie, wie Douglas sie inszeniert, bieten | |
kleine Utopien, die der eigenen Fantasie genug Raum lassen, sie selbst | |
weiter zu erzählen. Die Geschichte wird reicher, ohne dass an ihr | |
gewaltsame Korrekturen vorgenommen würden. Und vor allem in der Welt von | |
„Luanda-Kinshasa“ möchte man sehr gern verweilen. | |
8 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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