| # taz.de -- Saisonstart Volksbühne Berlin: Bewaffnete Thesen | |
| > Ab Samstag spielen die Theater wieder. Die Volksbühne machte den | |
| > Aufschlag mit dem „Kaiser von Kalifornien“ von Alexander Eisenach. | |
| Bild: Der Kopfgeldjäger (Robert Kuchenbuch) startet hier einen Versuch in gewa… | |
| Im gerade erschienenen [1][Jahrbuch von Theater heute] sieht man ein großes | |
| Bild von den leeren Treppenstufen vor der Berliner Volksbühne, das an die | |
| Zeit des Lockdowns erinnert. Jetzt dürfen die Theater wieder spielen, unter | |
| Auflagen, bei großem Abstand zwischen den Zuschauern. Kleine Gruppen | |
| standen also am Donnerstagabend wieder auf der Treppe der Volksbühne, die | |
| mit einer „Nachspielzeit“, vom Frühjahr auf Spätsommer verschobenen | |
| Premieren, die neue Saison beginnt. Auch das Gorki Theater und das Deutsche | |
| Theater laden zu ersten Premieren an diesem Wochenende. | |
| Und doch ist die Stimmung verhalten, die große Freude bleibt aus. Man geht | |
| mit klammen Schritten in den großen Saal, ahnt man doch, dass für so wenige | |
| Besucher zu spielen ein Verlust für die Kassen des Hauses sein muss. Dabei | |
| ist eine Uraufführung angekündigt, „Der Kaiser von Kalifornien“, in der d… | |
| Regisseur Alexander Eisenach vom Goldrausch in Kalifornien erzählt, von der | |
| Sehnsucht nach einem besseren Leben, von der Hoffnung auf ein Paradies | |
| anderswo. | |
| Fast ohne Text kommt Eisenach die ersten zwanzig Minuten aus, ein Treck | |
| zieht über die Bühne und durch schwarz-weiße Filmbilder, nimmt die | |
| Bildsprache von Western und Siedlergeschichten auf. Ein Fort steht auf der | |
| Bühne, ein Mühlrad dreht sich. Die ersten Weinreben werden gepflanzt, das | |
| erste Brot wird verteilt, für einen kurzen Moment glauben die Auswanderer, | |
| sie seien im Paradies angekommen. | |
| In einer triumphierenden Rede erinnert ihr Anführer (Johanna Bantzer) | |
| daran, dass viele auf dem Weg dorthin in der Wüste verdurstet oder im Meer | |
| ertrunken sind. Da wird die Geschichte von den frühen weißen Siedlern in | |
| den USA und ihrer Suche nach Glück wie selbstverständlich überblendet von | |
| der der Migranten von heute, die nach Europa wollen. | |
| ## Live-Musik treibt voran | |
| Dieser erste Teil enthält schon das Versprechen, die Geschichte mit der | |
| Gegenwart zu verbinden. Er ist packend inszeniert, im Rhythmus von | |
| Livemusik (von Sven Michelson und Niklas Kraft) und der Bewegung der | |
| Performer fast ein suggestives Tanztheater, leicht pathetisch überhöht in | |
| den Filmbildern, aber auch schon ironisch gebrochen. Vor dem ersten | |
| Kameramann, der auf sie zukommt, weichen die Schauspieler:innen angstvoll | |
| zurück, ziehen sich Tücher vor Mund und Nase, wie überhaupt das Tuch des | |
| Westernhelden, das den von Hufen aufgewirbelten Staub fernhalten soll, hier | |
| wiederholt als Mund-Nasen-Schutz genutzt wird. Kein wichtiges, aber ein | |
| dankbar registriertes Detail. | |
| Das Farmleben also hat sich in dieser ersten Episode prächtig entwickelt, | |
| da wird Gold gefunden. Mit spitzer Hacke drischt eine Schauspielerin (Sarah | |
| Franke) auf den Bühnenboden ein und malt ein Bild vom Leben als | |
| Glücksspiel. Ihre Aktion lässt keinen Zweifel, ab jetzt hat man es mit | |
| Wahnsinnigen zu tun. | |
| Nach dieser Szene entwickelt sich das Geschehen auf der Bühne sprunghaft. | |
| In einem großartigen Dialog diskutieren zwei Kopfgeldjäger über den | |
| Fortschritt und das Glück: Während der eine (Robert Kuchenbuch) einem | |
| Freiheitsideal anhängt, das sich nur in der Wildnis verwirklichen kann, die | |
| er schwer romantisiert, kotzt den anderen (Sebastian Grünewald) diese | |
| Fortschrittsfeindlichkeit an, und er verteidigt die Zivilisation und die | |
| beginnende Industrialisierung, verliert sich aber schließlich im zärtlichen | |
| Streicheln einer Maschine. | |
| ## Eine Geschichte? Eine Geschichte gibt es nicht | |
| Ihr Gefangener (Manolo Bertling), der sich währenddessen schon fast | |
| verpisst hat, hört schließlich fasziniert zu. Später gründet er mit einem | |
| der beiden eine Bank. | |
| Es gibt also die Siedler, die Goldgräber, die Banker, aber in eine | |
| Geschichte eingespannt erlebt man diese Figuren kaum. Das erschwert auf die | |
| Dauer die Aufmerksamkeit, der Sog des Anfangs ist dahin. Man fühlt sich ein | |
| wenig, als hätte man einen Abenteuerroman kaufen wollen und stattdessen ein | |
| Sachbuch in den Händen, von frischen Studienabgängern der Soziologie oder | |
| Ökonomie geschrieben. | |
| Die Reden der Figuren, von denen man [2][nur aus der Vorankündigung weiß, | |
| dass sie auf historischen Vorlagen beruhen,] sind metaphernreich, | |
| essayistisch, sie entwerfen verschiedene Konzepte von Glück, von | |
| Fortschritt, von Kapitalismus, die sie im großen Showdown mit Pistolen und | |
| Gewehren gegeneinander verteidigen. | |
| Das hat stellenweise Witz, zieht sich aber oft auch ganz schön lang hin. | |
| (Die Aufführung geht über zweieinhalb Stunden, das Belüftungssystem der | |
| Volksbühne erlaubt diese Dauer.) Nicht selten fühlt man sich, schließlich | |
| sitzt man in der Berliner Volksbühne, an das Theater von Frank Castorf oder | |
| die Worttiraden von René Pollesch erinnert, aber eher mit einem schwachen | |
| Abklatsch des Originals. Der Text, den Alexander Eisenach selbst | |
| geschrieben hat, will zu viel auf einmal. In ein, zwei Sätzen hüpft er von | |
| Goldgräbern über Derivatehändler ins Silicon Valley. Der Blick aufs große | |
| Ganz aber versuppt in unklarer Brühe. | |
| Einmal geht der eiserne Vorhang herab, und durch eine kleine Tür tritt ein | |
| Schauspieler vor, der von der großen Pause redet, dem Moment, in dem man | |
| hätte überlegen können, ob die Welt zu verändern nicht doch möglich wäre. | |
| Aber seine Gedanken verfangen nicht, seine Stimme verliert sich in dem | |
| großen Raum, bald läuft die Theatermaschine weiter. | |
| 28 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ranking-im-deutschsprachigen-Theater/!5710343 | |
| [2] https://www.volksbuehne.berlin/en/programm/8574/der-kaiser-von-kalifornien/… | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
| ## TAGS | |
| Theater Berlin | |
| Berliner Volksbühne | |
| Uraufführung | |
| Western | |
| Gold | |
| Siedler | |
| Diskurs | |
| Migration | |
| Philippinen | |
| Theaterprobe | |
| Marina Abramovic | |
| Maxim Gorki Theater | |
| Theater | |
| Politisches Theater | |
| Theater | |
| Theater Bremen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Musik von Schauspielerin Stangenberg: Neun Eingänge hat die Hölle | |
| Volksbühne goes Pop. Die Berliner Schauspielerin Lilith Stangenberg hat mit | |
| dem philippinischen Dada-Musiker Khavn irre Psychedelia aufgenommen. | |
| Theater in Coronazeiten: Was für ein Theater | |
| Nach mehr als fünf Monaten Pause öffnen die Theaterhäuser wieder. Mit | |
| strengen Regeln. Zu Besuch in der Berliner Volksbühne. | |
| Marina Abramović als Maria Callas: Ave Marina | |
| Die Bayerische Staatsoper startet die Spielzeit mit Marina Abramović’ | |
| monumentaler Performance „7 Deaths of Maria Callas“. Alles verschmilzt. | |
| Neue Spielzeit am Maxim Gorki Theater: Immer auf die andere Seite wollen | |
| Am Gorki Theater feiert „Berlin Oranienplatz“ von Hakan Savaş Mican | |
| Premiere. Das Stück ist eine moderne Interpretation von Alfred Döblins | |
| Roman. | |
| „Melissa kriegt alles“ von René Pollesch: Wegen der Hühner | |
| Revolution ist nur noch Folklore. René Pollesch eröffnet die Spielzeit am | |
| Deutschen Theater Berlin mit frischer Lüftung und Schauspielstars. | |
| Performativer Spaziergang in Berlin: Bilder und Geschichten teilen | |
| Das Theaterstück „Häuser-Fluchten“ erzählt von NS-Verfolgten und | |
| Widerstandskämpfenden in Berlin. Das Publikum ist dabei in Bewegung. | |
| Dramatiker Bonn Park: Ein Star, der jung bleiben muss | |
| Bonn Park gewinnt seit Jahren mit seinen Stücken Preise und wird doch immer | |
| noch als Nachwuchs gehandelt. Aus dieser Schublade muss er raus. | |
| Interkulturelles Festival der Volksbühne Berlin: Ben Nemsi bei Handke | |
| „Postwest“ heißt ein Festival der Volksbühne Berlin. Wegen Corona musste … | |
| den Austausch mit südosteuropäischen Ländern ins Netz verlegen. |