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# taz.de -- Marina Abramović als Maria Callas: Ave Marina
> Die Bayerische Staatsoper startet die Spielzeit mit Marina Abramović’
> monumentaler Performance „7 Deaths of Maria Callas“. Alles verschmilzt.
Bild: Willem Dafoe und Marina Abramović in einer Videosequenz
Zuletzt geht es schnell: Klirrend zerbricht eine Vase auf dem Parkett.
[1][Marina Abramović] schreitet barfuß über weiße Rosen und kristalline
Scherben in ein mattes Lichtfenster. Eine Stunde lang war die
Performance-Künstlerin in einem Bett am Bühnenrand gelegen.
Im zweiten Teil des Abends aber lädt ihre dunkle Stimme, die mesmerisierend
aus Lautsprechern in den Bühnenraum dringt, zu einer Körperreise ein:
„Breathe“, atme, beschwört sie sich und ihr Publikum, vier Mal. Dann
vermessen ihre Worte ihren Körper, ihre Zehen auf dem kühlen Laken,
Fadendichte 600, ihre Hände auf dem klammen Bett, das in einem in Gold- und
Blautönen gehaltenen Biedermeier-Schlafzimmer steht.
Ein weißes Seidennachthemd klebt feucht an ihr. Ihr Haar duftet nach
Lavendel. Siebzehn Schritte trennen sie von einer anderen Welt – und vom
Ende. Durch ein bodentiefes Fenster dringen blaues Morgenlicht und der
erwachende Verkehrslärm des 16. Arrondissements von Paris. Am 16. September
1977 stirbt [2][Maria Callas] in der Avenue Georges-Mandel 36 an einem
Herzinfarkt. Zum Zeitpunkt ihres Todes ist sie 53 Jahre alt, 20 Jahre
jünger, als es Marina Abramović heute ist.
Ein Leben lang habe sich Marina Abramović mit Maria Callas beschäftigt,
sagt sie. Jetzt zelebriert sie deren Sterben. Gemeinsam mit ihrer
Großmutter hat die Performerin als Kind jene Arien gehört, die sie in
München in „7 Deaths of Maria Callas“ zusammenführt. Begleitet wird ihre
Inszenierung von Filmsequenzen und vom Bayerischen Staatsorchester unter
der Leitung des israelisch-amerikanischen Dirigenten Yoel Gamzou, der sein
Hausdebüt gibt.
Ursprünglich für April geplant
Vergangenheit und Gegenwart, Fantasie und Realität verschmelzen auf und
neben der Bühne – denn unfreiwillig wird die Uraufführung zum kulturellen
Wendepunkt des Corona-Sommers 2020. Ursprünglich war sie für April
angesetzt. Jetzt, fünf Monate später, ist das 2.100 Sitzplätze fassende
Innenrondell der Staatsoper erstmals wieder geöffnet – für 500 Zuschauer,
also immerhin 300 mehr als zunächst behördlich angeordnet.
Ein Live-Streaming-Angebot am 5. September soll jene Vielen entschädigen,
die keine Karten bekommen konnten. Pragmatisch ist das, alternativlos auch,
aber zugleich fast widersinnig – denn auch wenn Marina Abramović zuletzt
digitale Elemente wie Virtual Reality in ihr reiches Werk integriert hat,
legt sie wie kaum eine andere Performerin Wert auf die Begegnung zwischen
Zuschauer und Künstler in einem physisch definierten Raum.
[3][„The Artist Is Present“] (2010) war eine ihrer berühmtesten
Performances, in der sie versucht, durch ihre Ausstrahlung die Energie
eines Raumes zu beeinflussen und ihre Gäste in einen anderen metaphysischen
Geisteszustand zu versetzen: Schweigend blickt sie ihnen in die Augen,
Gesicht vor Gesicht, Mensch vor Mensch.
In „House with an Ocean View“ (2002) lebte die Künstlerin zwölf Tage in
drei komplett einsehbaren Zimmern. Die Leitern zu ihr hatten Messerklingen
statt Sprossen, um eine Flucht unmöglich zu machen und das Kraftfeld
zwischen ihr und dem Publikum nachhaltig zu verändern. In „Rhythm 0“ (1974)
lädt sie Zuschauer ein, sie mithilfe von 72 Gegenständen – darunter eine
geladene Pistole, Scheren und Nägel, aber auch Parfum und Federn – sechs
Stunden lang zu foltern oder zu verwöhnen.
Die Ränge sind halbleer
In München ist sie jetzt gezwungen, vor halbleeren Rängen zu performen.
Kurz vor dem Schlussapplaus kehrt sie als in goldene Pailletten gehüllte
Göttin auf die Bühne zurück, immer noch hochkonzentriert und gemessenen
Schrittes, der Haarknoten sitzt tief im Nacken wie bei der Callas. Sieben
Zimmermädchen haben da ihr Sterbezimmer schon mit schwarzem Trauerflor
verhüllt, Fotos, die sie kurz zuvor noch auf dem Bett ausgebreitet hatte,
zu einem Stapel zusammengeschoben, Scherben weggefegt, den Rosenstrauß im
Wischeimer entsorgt und den Muff des Todes mit Straußenfedern vom
Kaminsims gewedelt.
Auch diese Putzteufel haben einen harten Sphärenwechsel hinter sich: Die
Dienstboten von jetzt sind die Starsolistinnen von eben. Im ersten Teil
dieses Abends, der Oper, Film und Performance zu einem Gesamtkunstwerk
zusammenführt, singen sie bekannte Todes-Arien der Callas aus den Opern
„Otello“, „Carmen“, „Tosca“, „Lucia di Lammermoor“, „Norma“…
Butterfly“ und „La Traviata“.
Den Gesang begleitet das stellenweise deutlich zu laute, überdominante
Orchester der Bayerischen Staatsoper. Über die meterhohe Leinwand flimmern
Filmsequenzen, auf denen sich die Abramović Unterstützung von [4][dem
65-jährigen US-Schauspieler Willem Dafoe] („Van Gogh“, „Spider Man“) g…
hat: Mal legt er ihr Würgeschlangen um den Hals, mal fesselt er die als
Torero gekleidete Künstlerin mit einem dicken Seil, um sie nach einem
kurzen Tauziehen mit ihrem eigenen Dolch abzustechen.
Und auch hier ist sich Marina Abramović treu geblieben: Ihre
Bühneninteraktionen richten sich auf einen Gegenspieler, einen Mann, dem
sie ihr Lieben und Sterben hinschleudern kann wie einen Fehdehandschuh –
und ihr Leiden daran wie einen nassen Waschlappen.
Das Zusammenspiel zwischen den beiden funktioniert hinreißend. Dafoe hält
dem sprachlosen Dialog mit der Überfrau Abramović bravourös stand:
Verzweiflung, Unverständnis und Hass wechseln sich auf seinem Gesicht
gerade in den Momenten ab, wenn die Züge der Abramović im Todeskampf zur
Maske erstarren.
Unvorhersehbare Situation
Und so dramatisch die Sequenzen inszeniert sind – Blut rinnt aus ihren
Augen und tropft durch zerrissene Tüllschleier, ihr Körper zerschellt nach
dem Sturz von einem Wolkenkratzer auf einer Autofrontscheibe, sie verendet
halbnackt inmitten einer von Giftgas vernebelten Schuttwüste oder schreitet
gemächlich in ein Feuer –, gelingt es beiden, die spektakulären
Rahmenbedingungen ihrer Begegnung nicht die Oberhand gewinnen zu lassen
über dem Bedauern des unwiederbringlichen Abschieds, das sich in ihren
Mienen spiegelt.
Die Gelassenheit, mit der Marina Abramović die Stille des Todes und die
Dramatik des Übertritts ineinander verschränkt, zeigen eine Routine in der
Auseinandersetzung mit der eigenen Gefühlswelt, die sie sich über
Jahrzehnte erarbeitet hat.
Allein war sie, als sie zu Beginn der Proben nach München kam, die Pandemie
ihr Projekt exemplarisch für das gesamte Münchner Kulturleben lahmlegte und
die Rückreise zu ihrem Garten und ihrer Gurkenzucht unmöglich machte. Doch
unvorhersehbaren Situationen stelle sie sich mit einer strengen Routine,
berichtet sie: Sie sei immer zur selben Zeit aufgestanden, habe zur
gleichen Zeit gefrühstückt, dann ein Buch zur Hand genommen und eine
festgelegte Seitenzahl gelesen – während sich draußen binnen Tagen eine
frühlingshafte Stadt zu einer leergefegten Geisterkulisse wandelte.
Ihre Lage habe sie an ihre Performance „Counting the Rice“ (2014) erinnert:
Eine Handvoll Reis wird dabei auf den Tisch gelegt und die Körner akribisch
mit Bleistift und Papier durchgezählt. Wer eine einmal getroffene
Entscheidung nicht ausführen könne, „der ist auch nicht fähig, das Leben zu
meistern“, sagt Marina Abramović.
In „7 Deaths of Maria Callas“ meistert sie sogar den Tod künstlerisch – …
integralen Teil jenes Lebens, das sie bereit ist, kompromisslos zu lieben
und zu ertragen.
2 Sep 2020
## LINKS
[1] /Hass-auf-Performance-Kuenstlerin/!5678708
[2] /Dokumentarfilm-ueber-Maria-Callas/!5503891
[3] /Dokumentation-ueber-eine-Performerin/!5078417
[4] /Neuer-Film-Siberia-von-Abel-Ferrara/!5693478
## AUTOREN
Johanna Schmeller
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