# taz.de -- Musik von Schauspielerin Stangenberg: Neun Eingänge hat die Hölle | |
> Volksbühne goes Pop. Die Berliner Schauspielerin Lilith Stangenberg hat | |
> mit dem philippinischen Dada-Musiker Khavn irre Psychedelia aufgenommen. | |
Bild: Pech und Schwefel: Khavn de la Cruz und Lilith Stangenberg | |
Die Orgel schnarrt wie beim Alleinunterhalter. Von den Drums zischeln | |
Hihat-Becken dazu. Und dann kommt nur noch diese Stimme: schneidend und | |
scharf, aber verletzlich. Weich und voller Wut. So singt die Berliner | |
Schauspielerin Lilith Stangenberg. Jetzt ist ihr Debütalbum erschienen: | |
„Orphea – Love Songs from Hell“. | |
Höllisch klingen sie nicht, aber verwirrend. Die Stimme mäandert sich durch | |
trashigen Tracks, immer sicher im Ton, aber auch immer am Rande zum Unfug. | |
Ist das ernst gemeint oder vielleicht Parodie? Diese Frage sei doch „eine | |
super Reaktion“, sagt Stangenberg im Interview mit dertaz. Es geht wohl um | |
Ambivalenz. | |
Schauspieler:Innen, die sich als Sänger versuchen – geben eigentlich selten | |
Anlass zur Freude. Es gibt bis heute Zweifel daran, ob der sonst so gute | |
Jan Josef Liefers wirklich singen muss. Oder, ob das „Rilke Projekt“ mit | |
verpoppten Gedichten und deutschen Filmgrößen am Mikrofon drei Folgen hätte | |
haben müssen und nicht besser keine. Außerhalb Deutschlands sieht es nicht | |
besser aus: Ohne die Bruce Willis Blues Band wäre die Welt auch keine | |
schlechtere. Man müsste bei Stangenberg also nicht hinhören – wäre nicht | |
alles anders. | |
## Zwei Manuale als Antithese | |
Musikalisch steckt Khavn de la Cruz hinter den neun Songs, der bunte Hund | |
der [1][philippinischen Filmszene]. Er spielt sie auf einer alten | |
Digital-Orgel ein, die er offenbar zu Beginn der Session im Studio von | |
Stereo-Total-Keyboarder Brezel Göring fand. Mehr „out“ als eine Yamaha | |
Electone kann ein Keyboard gar nicht sein (diese oder ein ähnliches Modell | |
muss es sein, die auf dem Album zum Einsatz kommt). Khavn versucht an | |
diesen zwei Manualen die Antithese zur sauber und ausgefuchst produzierten | |
amtlichen Studiomusik. | |
Der Künstler aus Quezon-Stadt ist hier zu Lande praktisch unbekannt, kaum | |
jemand kennt seine 50 Filme, er hat einen kurzen Wikipedia-Eintrag in drei | |
Sprachen, Deutsch ist nicht darunter. Stangenberg aber liebt seine Arbeiten | |
und sagt, sie verehre ihn „seit Jahren“. Als das Ende ihrer Zeit an der | |
Volksbühne kam, sie heimatlos wurde, habe sie von seinem Konzert im | |
Acud-Club in Berlin Mitte gelesen. | |
„Es waren dann fünf Leute im Publikum. Er zeigte Stummfilme und spielte | |
dazu live Orgel. Ich hab Khavn danach kennengelernt und später geschrieben, | |
um zu sagen, wie viel seine Filme mir bedeuten.“ Als Alexander Kluge mit | |
Khavn einen Film drehen wollte, fragten die beiden Lilith Stangenberg. „Das | |
war für mich so, als würde ich mit Orson Welles drehen“, erklärt die | |
32-Jährige. | |
## Surreales Noise-Musical | |
Der Film ist ein anstrengender zweistündiger Ritt durch verschiedene | |
[2][Drehorte in Manila], vor Bluescreen oder auch mal in einer Art Tunnel | |
aus Karton. Lilith Stangenberg flüstert, schreit, deklamiert, spielt mit | |
Schlangen. Es geht um Rilke. Und der Orpheus-Mythos wird mit einer Frau als | |
Hauptperson neu erzählt. Das soll es wohl sein. Man muss Geduld und | |
Wohlwollen mitbringen, um überhaupt Sinnhaftes zu erkennen. Tut man es, | |
macht das surreale Noise-Musical Spaß. Es lief auch auf der diesjährigen | |
Berlinale, ohne viel Aufsehen. | |
Was bleibt, sind nun die Songs. Aus ihnen spricht in jeder Sekunde [3][die | |
kompromisslose Hingabe] der Sängerin. Stangenberg erinnert an Lars | |
Eidinger, ohne dessen Albernheit und Selbstinszenierung zu wiederholen. | |
Cool war sie nie. Sie riskiert mehr, setzt sich mehr aus. Jetzt | |
dekonstruiert der Liebling der Berliner Theaterfans sich selbst, singt | |
Dinge wie: „I only have this hair that somebody once loved“ und „I’m | |
nobody“. | |
Die Hölle hat neun Eingänge, und deswegen gibt das ungleiche Duo nun neun | |
Songs from Hell. Khavn soll sie an einem Nachmittag in Manila am Stück | |
komponiert haben, jeder in einem eigenen Genre. „Unser Stil ist kein Stil, | |
es ging nie darum, eine runde Sache oder etwas aus einem Guss | |
herzustellen“, erklärt Stangenberg. „So ist man viel näher an einer | |
Wahrheit, als wenn man immer alles richtig machen will.“ | |
## Nicht der übliche Look | |
Erst den guten Geschmack zerstören, dann neu anfangen – hier leitet eine | |
Devise, die einst dem Punk sehr dienlich war. „Punks hatten doch immer eine | |
Haltung gegen das Establishment“, sagt Stangenberg. „Und darin lag dann | |
Energie. Mich wundert es, wenn junge Leute, Studenten etwa, sich in ihren | |
Filmen einen Look suchen, den es schon hundertfach gibt. Sich anpassen für | |
die Karriere und den Erfolg. Dabei muss Kunst doch als Erstes überraschend | |
sein. Dann kann es ergreifend oder faszinierend werden.“ | |
„Blind“, „Widow“, „Orphan“, so heißen die Songs. Stangenberg ist a… | |
auf die Rolle der düsteren, gefährlichen Frau. Selbst das wird hier noch | |
mit parodiert. Sie selbst schildert dazu nur eine Anekdote: „Ich hatte nie | |
einen Hang zur Nacht oder zur Dunkelheit, nee. Aber ich weiß noch, wie ich | |
als Schülerin im Musikunterricht mit meiner Mitschülerin getuschelt habe, | |
und da sagte der Lehrer auf einmal: Sprich nicht mit der Stangenberg, sie | |
ist vom Teufel besessen!“ | |
Man kann nur hoffen, dass dieses Album nicht dem aufgeheizten Diskurs um | |
[4][kulturelle Aneignung] zum Opfer fällt. „Sandali na lamang nang pinutol | |
moang lubid“, singt sie in der schönsten Nummer auch mal. Es ist übrigens | |
ein Song über den Suizid und heißt ungefähr: Dieser Moment, wenn du dir das | |
Seil zurechtschneidest. | |
Da steht die weiße, scheinbar zerbrechliche Frau in den Slums von Manila, | |
so darf man sich die Entstehung des Albums auch vorstellen, denn dort hat | |
sie die Songs zum ersten Mal gesungen. Und singt gegen etwas an, das sie | |
selbst nicht versteht. Wir auch nicht. Das ist das Zauberhafte an dieser | |
Musik. Und die Beats aus der Automatik der Yamaha-Orgel. | |
26 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Lindemann | |
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