# taz.de -- Rumänische Popszene: Mehr Manele für die Welt | |
> Die tolle Turbo-Folk-Koppelung „Future Nuggets“ präsentiert in 16 Songs | |
> den Stilwillen der experimentierfreudigen rumänischen Popszene. | |
Bild: Ersma was paffen: Suce Fraga aus Bukarest | |
Ein Auto fährt durch die Straßen von Bukarest. Auf der Tonspur erzählt Suce | |
Fraga davon, wie sie als Kind davon träumte, Geschäftsfrau zu werden. Ein | |
Glück, dass es anders gekommen ist: Heute arbeitet Fraga laut eigener | |
Aussage als Produzentin und Gangsterin. Die [1][rumänische Künstlerin] | |
spielt Bass, Schlagzeug, Klavier und Gitarre. In besagtem Video führt sie | |
ihre Zuschauer:innen durch die rumänische Hauptstadt. | |
Dabei berichtet Suce Fraga darüber, wie sexistisch sie von Musikerkollegen | |
in Bukarest behandelt wird. Sie erzählt auch davon, wie sie von | |
Konservativen angefeindet wird. Um dagegen anzugehen, setzt sie in ihren | |
Songs oftmals explizite Texte ein. Suce Fragas Song „Led“ ist einer der | |
Höhepunkte des Samplers „Future Nuggets: Sounds of the Unheard From | |
Romania, Vol. 4“. | |
Darauf präsentiert das gleichnamige Bukarester Label-Kollektiv die Perlen | |
seiner Arbeit der vergangenen Jahre. In diesem Jahr feiert Future Nuggets | |
sein zehnjähriges Bestehen. Ein Anlass, den wiederum das Berliner Label | |
[2][Fun in the Church] nun zur Veröffentlichung eines Jubiläums-Samplers | |
mit neuer Musik des Future-Nuggets-Katalogs nutzt: „Psychedelische Sounds | |
und obskure musikalische Hybride aus den dunklen und versteckten Ecken | |
Rumäniens“ werden versprochen. | |
## Obskurer Hybrid | |
Ein solch obskurer Hybrid ist auch Fragas Song „Led“. Auf Soundcloud hat | |
die Künstlerin den Song mit der Umschreibung [3][„Târfo type beat“] | |
hochgeladen.Damit eckt sie im sehr religiösen Rumänien erneut an. „Târfo“ | |
bedeutet auf Rumänisch so viel wie Bitch, was an die genüsslich verwendete | |
Gossensprache von US-HipHop-Kultur erinnert. Ohnehin lässt sich [4][Fraga] | |
mehr von der internationalen als von rumänischer Musik beeinflussen und | |
zitiert in ihrem Sound häufig Elemente des HipHop. | |
Auch ihr Song „Led“ ist von Trap inspiriert. Allerdings erinnert seine | |
Struktur auch an den düsteren Synth-Pop der russischen Produzentin Kedr | |
Livanskiy, genau wie an den sinnlichen R&B der US-Sängerin Abra. [5][Frugas | |
Stimme] wabert beinahe lethargisch über verzerrte Synthies und pluckernde | |
Beats. Fraga singt in „Led“ auf Englisch, in anderen Tracks singt sie in | |
ihrer Muttersprache, aber auch auf Französisch. | |
Viele Künstler:innen des Labels „Future Nuggets“ zeigen sich von | |
verschiedensten Musikströmungen beeinflusst, wie Ing. Roman von | |
Elektro-Folk, Horus von Minimal Techno oder Plevna und Goldish von | |
groovigem Psychedelic Rock. Bei fast allen Tracks des Samplers schimmern | |
jedoch am deutlichsten die Einflüsse des Manele hervor. So wird ein | |
Turbofolk-Genre genannt, das türkische, griechische, serbische, bulgarische | |
und arabische Elemente mit zeitgenössischem Pop mischt. Seit den 1980ern | |
spielt es vor allem in der marginalisierten Roma-Community Rumäniens eine | |
wichtige Rolle. | |
## Geld, Liebe, Sex, Korruption und Macht | |
In den Texten von [6][Manele-Songs] geht es meist um Geld, Liebe, Sex, aber | |
auch Geld, Korruption und Macht. Das Genre setzte sich im Mainstream nach | |
Ende des Ceaușescu-Regimes durch, bis 1989 war es verboten und wurde nur im | |
Untergrund gespielt. Der kommerzielle Manele-Sound von heute nutzt neben | |
westlichen Einflüssen des Pop und Rock auch HipHop- und Reggaeton- und | |
weitere Dancefloor-Einflüsse. | |
Großer Beliebtheit erfreut er sich besonders in Musikvideos, auf Hochzeiten | |
und in Großraumdiskotheken. Aufgrund seiner simplen Texte war das Genre bei | |
Intellektuellen und Musikkenner:innen zunächst verpönt. Das änderte | |
sich Anfang der zehner Jahre, als das Genre auch im rumänischen Underground | |
beliebt wurde, vor allem in Bukarest und Cluj-Napoca. In diesem | |
Zusammenhang gründete sich auch das Bukarester Label [7][Future Nuggets.] | |
Es hat sich zur Aufgabe gemacht, Sounds des Proto-Manele zu erforschen. | |
Dieser stammt aus den 1980er und frühen 1990er Jahren, bevor sich das | |
kommerzielle Manele im Mainstream durchsetzte. Alte Kassetten und | |
Demoaufnahmen werden gesampelt und mit neuem Gesang und zeitgenössischen | |
Beats versehen. Zwischendurch flackern, wie bei Suce Fraga, aber auch immer | |
wieder westliche Einflüsse auf. | |
## Feierliche und fröhliche Vielfalt | |
Die Compilation „Future Nuggets“ schafft es, die Neugier auf das | |
vielschichtige musikalische Konglomerat des Manelesounds zu wecken. Das | |
gelingt, in dem die Auswahl der Künstler:innen und Tracks sehr | |
vielfältig ist, kaum ein Track ähnelt dem anderen. Während der Auftaktsong | |
von Australopitecus Oltensis von noisigem Ambient geprägt ist, präsentiert | |
die Band Delta einen ebenso groovigen wie ätherischen Instrumentaltrack. | |
Departamentul Zero liefern mit „Safe Passage“ sphärischen Psychedelicsound, | |
der von verspielten Gitarrenläufen dominiert wird. Der Track „Marigold“ des | |
Bukarester Musikers Inana kommt zunächst als melancholischer LoFi-Popsong | |
daher, wandelt sich allmählich in ein funkiges Psychedelicpopstück. | |
Auf „Μη μου λες“ fusioniert die Bukarester Künstlerin Sarra orient… | |
und folkloristische Manele-Elemente mit verzerrten Synthie-Sounds. Im | |
Visualizer zur Single fährt ein Auto über Landstraßen und durch Städte, | |
dazwischen ploppen Bilder von Sängerinnen auf, vermutlich aus dem Rumänien | |
der 1950er und 1960er Jahre. Sarra gelingt durch die Verknüpfung von | |
Geschichte und Gegenwart ein eigenwilliger Sound, der mit den Tracks von | |
Inana und Sucre Fruga zu den stärksten Aussagen des Samplers zählt. | |
„Future Nuggets: Sounds of the Unheard from Romania, Vol. 4“ gewährt | |
Einblick in die hierzulande weitgehend unbekannte Underground-Szene | |
Bukarests. Die 16 Künstler:innen der Zusammenstellung vereint nicht nur | |
ihre Herkunft, sondern vor allem die Experimentierfreude. Woher die | |
kulturellen Einflüssen, Soundfragmente und Beats stammen, ist nicht immer | |
deutlich erkennbar. Aber genau darin liegt der Reiz der Musik. | |
Der verruchte R&B-Trap von Suce Fraga, der folkloristische Synthie-Pop von | |
Sarra, der melodische Bedroom-Pop von Inana, der düstere [8][Psych-Electro | |
von Plevna] und Ion D, der vorwärtspreschende Minimal-Techno von Horus, sie | |
alle bieten Einblick in Klangwelten, die man so noch nicht in komprimierter | |
Form gehört hat. | |
Und deshalb fühlt man sich beim Hören von „Future Nuggets: Sound of the | |
Unheard from Romania, Vol. 4“ auch ein bisschen wie auf Zeitreise. Vom | |
Proto-Manele bis hin zu den Bukarester Underground-Clubs der Gegenwart. Zu | |
gerne würde man sich vorwärts in die Zukunft, zum 20. Geburtstag des Labels | |
beamen lassen, denkbar ist, dass viele Künstler:innen aus Rumänien dann | |
viel bekannter sind. | |
Bis es so weit ist, bieten die aktuellen Future Nuggets-Künstler:innen | |
schon jetzt reichlich Material, das neugierig auf Gegenwart und | |
Vergangenheit der rumänischen Musikszene macht. | |
1 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=gdc-6PSLdeA | |
[2] /Vergessenes-iranisches-Poptalent/!5852801 | |
[3] https://sucefraga.bandcamp.com/releases | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=VGSB2ufVjYw | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=dlEbrKDBO5c | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=cBOjcEAwE08 | |
[7] https://futurenuggets.bandcamp.com/ | |
[8] https://plevna.bandcamp.com/ | |
## AUTOREN | |
Louisa Zimmer | |
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