# taz.de -- Neue Musik von Al-Qasar und Iggy Pop: Hinab in den düsteren Schlund | |
> Psychedelische Protestmusik: Die Alben von Al-Qasar aus Paris und der | |
> Brüsseler Künstlerin Catherine Graindorge mit Iggy Pop werden zeitlos | |
> bleiben. | |
Bild: Barbès erstreckt sich auf das 9., 10. und 18. Arrondissement von Paris. … | |
Gute Musik in heiklen Zeiten, die extrovertierte Variante: Den einen oder | |
anderen Ruhepunkt gibt es auf „Who Are We?“, dem Debüt des Quintetts | |
Al-Qasar, aber die acht Songs auf insgesamt knapp 45 Minuten Spieldauer | |
kommen dringlich und rasant daher. Schon das zweiminütige Intro atmet | |
latente Unruhe: In dichte Gitarrenwände fährt der quecksilbrige Sound einer | |
elektrischen Saz. Perkussion im Stereo-Wechseleffekt und erneutes | |
Gitarrenfeedback eröffnen „Awal“, das zweite Stück. | |
Als „Arabian Fuzz“ umreißt die Band, was sie da macht, und trifft es damit | |
ganz gut. Al-Qasar sind von dem Saz-Spieler, Gitarristen und Keyboarder | |
Thomas Attar Bellier in Barbès, einem migrantisch geprägten Stadtviertel | |
von Paris, gegründet worden. Das Kollektiv spielt keinen Multikultikitsch, | |
ihr Ding ist psychedelische Protestmusik unterschiedlichster Provenienz. | |
Al-Qasar kommen aus Frankreich, Marokko, Algerien, Ägypten und den USA. | |
„Who Are We?“ lässt jedes Flugblatt alt aussehen. | |
Das gitarristische Fegefeuer zu Beginn des Albums wird entfacht von Lee | |
Ranaldo, bekannt durch seine jahrzehntelange Arbeit in [1][der | |
Noiserock-Institution Sonic Youth] und zahlreiche Soloalben. Al-Qasar | |
haben noch mehr Prominenz geladen: Jello Biafra, Propagandist und Shouter | |
der kalifornischen Hardcorepunk-Legende Dead Kennedys, tele-deklamiert über | |
einer Surfgitarre wie in den markantesten Momenten seiner ehemaligen Band: | |
„Ya Malak“ ist die erste englische Übersetzung eines Textes von Ahmed Fouad | |
Negm. | |
Die Zeilen des ägyptischen revolutionären Dichters erinnern an Bertolt | |
Brechts „Wessen Morgen ist der Morgen, wessen Welt ist die Welt?“. Die | |
Frage ist nie aus der Mode gekommen und wird es auf absehbare Zeit auch | |
nicht. | |
## Hommage an Barbès | |
„Hobek Thawrat“, das vierte Stück, greift die dräuende Stimmung der | |
Einleitung wieder auf und gerät dann, trotz gedrosselten Tempos, zu einem | |
dichten, von Perkussion getragenen und mit Basseffekten abgerundeten | |
Mittelteil. Die Sängerin ist die mit The Nubatones bekanntgewordene | |
sudanesische Künstlerin Alsarah, ihr Beitrag ist auch ein Liebeslied und | |
zugleich mehr als das. | |
Nach einem Instrumental folgt eine Hommage an das Pariser Stadtviertel | |
Barbès, indem Al-Qasar leben, unterstützt vom Songwriter und Oud-Spieler | |
Mehdi Haddab. Das Finale von „Who Are We?“ bestreiten Al-Qasar im Ensemble | |
mit der Sängerin Hend Alrawy: „Mal Wa Jamal“ lässt die Musik robust | |
ausklingen. | |
Gute Musik in heiklen Zeiten, die introvertierte Variante: Mit einem | |
düsteren Ton beginnt „The Dictator“, die knapp über 15-minütige EP, welc… | |
die belgische Musikerin, Komponistin und Schauspielerin Catherine | |
Graindorge mit Iggy Pop aufgenommen hat. [2][Iggy, der 75-jährige | |
US-Punk-Ersttäter,] ist nicht unbedingt als Introvertierter im kulturellen | |
Gedächtnis gespeichert, in dem Register zeigt er sich aber durchaus | |
versiert. Seit 2009 hat er mit einer Ausnahme auf seinen aktuellen Alben | |
jeweils Jazz, Chansons und Elektronik anstelle von sortenreiner Rockmusik | |
geboten. | |
Atmosphärisch knüpft „The Dictator“ an „The Dawn“, die Coda von Iggys | |
2019er-Album „Free“ an, nur klart es sich auf „The Dictator“ nicht auf. | |
Sein Sound bleibt düster. Graindorge grundiert mit Violine, Viola und | |
Harmonium. Ihr musikalisches Werk ist breit. So spielt sie etwa bei der | |
instrumentalen Postrock-Band Nox und hat bereits mit Kolleginnen wie der | |
Songwriterin Andrea Schroeder und dem australischen Psych-Blueser Hugo Race | |
gearbeitet. Graindorges Soloalbum „Eldorado“ (2021) ist einer der | |
musikalischen Lichtblicke der Pandemie gewesen. | |
## Der große Diktator zerschmettert die Schwachen | |
Iggy Pops Textbeitrag zum Titelsong der gemeinsamen EP „The Dictator“ setzt | |
mit einer Kindheitserinnerung an den lächelnden US-Präsidenten Dwight D. | |
Eisenhower ein. Darüber legt er Bilder politischer Gewalt. Der große | |
Diktator, singt Pop, er ist im Anmarsch. Er versteht sich auf Magie, bei | |
ihm wird aus Tag Nacht. Er versteht sich auf Instinkte und zerschmettert | |
die Schwachen. | |
Pops Sprechgesang kommt dabei nicht von einem Sockel, sondern aus einem | |
tiefen Schlund, der erschreckt. In „Mud I“ skizziert er einen | |
Nebelspaziergang am Fluss. Der da geht, sagt von sich, er laufe mit jedem | |
Schritt im Schlamm weiter in Richtung Stille. Dorthin, wo Pops für Januar | |
2023 angekündigtes neues Album „Every Loser“ nicht hinzuführen scheint, | |
geht man von dem aus, was bis jetzt zu hören ist. | |
Anders bei seinem Duo mit Catherine Graindorge. Die halbe Welt zieht in | |
Lumpen umher, heißt es in „Mud II“. Aufwärts schleppt es sich nicht, und | |
das Wissen darum macht müde. Ausgerechnet da wird seine Stimme heller, | |
bevor sie sich in Echos verliert. Das lakonisch betitelte Instrumental | |
„Iggy“ beschließt die EP. | |
Iggys kindlicher Blickwinkel in der Textwelt von „The Dictator“ erinnert an | |
ein Werk aus der Sammlung des New Yorker MoMA: „I Saw Stalin Once When I | |
Was A Child“ von dem russischen Künstlertandem Vitaly Komar und Alex | |
Melamid. Das naiv-böse Gemälde zeigt Stalin, der in einer Staatskarosse | |
nachtwärts kutschiert wird. Er streicht den roten Vorhang des Rückfensters | |
zur Seite und schaut aus dem Bild. | |
Dem Kind aus dem Titel könnte „des Sowjetvolkes großer Ernteleiter“ (Brec… | |
offiziell) und „verdiente Mörder des Volkes“ (Brecht inoffiziell) als | |
erschöpfter Landesvater erscheinen. Im August 1989 hat [3][der | |
Schriftsteller Christoph Hein] in der Zeit ausführlich über das Gemälde | |
geschrieben. Veröffentlicht gehört hätte der Essay eigentlich in der DDR, | |
wo seit 1985 Wladimir Putin für den sowjetischen Geheimdienst KGB in | |
Dresden arbeitete. Als zweiter Bürgermeister von Sankt Petersburg sollte | |
Putin in den frühen Neunzigern dann für Russland einen anderen Diktator als | |
Vorbild empfehlen: Augusto Pinochet, von 1973 bis 1990 wirtschaftsliberaler | |
und Mörder Chiles. | |
4 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Thurston-Moore-uebers-Gitarrespielen/!5411393 | |
[2] /Konzert-von-Iggy-Pop-in-Hamburg/!5859614 | |
[3] /Neuer-Roman-von-Christoph-Hein/!5421540 | |
## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
## TAGS | |
Iggy Iop | |
Rock | |
Paris | |
arabisch | |
wochentaz | |
Nachruf | |
Iggy Iop | |
Hardcore-Punk | |
Postpunk | |
Radio | |
Musiker | |
Rumänien | |
Ethnologie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gespräch mit Billy Childish: „Van Gogh ist mein Held“ | |
Ein Gespräch mit dem britischen Künstler Billy Childish über das Bemalen | |
von Ostereiern, Turnkeulen-Werfen und das Simplistische am Rock’n’Roll. | |
Tod von britischem Rockmusiker: Gitarren-Legende Jeff Beck ist tot | |
Er gilt als einer der größten Rock-Gitarristen aller Zeiten. Nun ist der | |
britische Ausnahme-Musiker an einer plötzlichen Erkrankung gestorben. | |
Neues Album von Iggy Pop: Kaputtologie vom Proto-Wutbürger | |
Leguan mit sehr viel Kunstsinn: Iggy Pop veröffentlicht mit „Every Loser“ | |
ein elegant schnurrendes Album. Die Backingband besteht aus schweren Jungs. | |
Bad-Religion-Sänger Graffin über Punk: „Eine Rebellion des Geistes“ | |
Greg Graffin, Sänger der Hardcorepunkband Bad Religion, hat seine | |
Autobiografie veröffentlicht. Ein Gespräch über Offenheit und Charles | |
Darwin. | |
Neuer „Postpunk“ von Big Joanie: Wenn sie's können, kannst du's auch | |
Popmelodien, Spaß am Experiment, Riot-Grrrl-Ästhetik und DIY: Passgenau | |
bringt das neue Album des Londoner Trios Big Joanie das zusammen. | |
John-Peel-Sessions von To Rococo Rot: In den Ätherwellen treffen | |
Dreimal war die deutsche Band To Rococo Rot bei den legendären | |
John-Peel-Sessions der BBC zu Gast. Nun sind die Aufnahmen als Album | |
erschienen. | |
Neue Begegnungen von Musikstilen: Fremde oder Freunde | |
Wie klingt es, wenn geografisch entfernte Musiktraditionen | |
aufeinandertreffen? Das zeigen Alben von Bachir Attar und Elliott Sharp | |
sowie Mickey Hart. | |
Rumänische Popszene: Mehr Manele für die Welt | |
Die tolle Turbo-Folk-Koppelung „Future Nuggets“ präsentiert in 16 Songs den | |
Stilwillen der experimentierfreudigen rumänischen Popszene. | |
Musikethnologisches Projekt FLEE: Die nach den Tönen forschen | |
Das Projekt FLEE mit Sitz in Paris verfolgt beim Urbarmachen von alten | |
Klangarchiven und Feldaufnahmen aus aller Welt neue Ansätze. Ein | |
Porträt. |