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# taz.de -- Neues Album von Iggy Pop: Kaputtologie vom Proto-Wutbürger
> Leguan mit sehr viel Kunstsinn: Iggy Pop veröffentlicht mit „Every Loser“
> ein elegant schnurrendes Album. Die Backingband besteht aus schweren
> Jungs.
Bild: Iggy kommt von Iguana, deutsch für Leguan: Hier in feinem Zwirn an einem…
„Got a dick and 2 balls, that's more than you all“, so beginnt
[1][„Frenzy“, der Auftaktsong] des neuen Iggy Pop-Albums „Every Loser“.…
kurzweilige Potenzgefuchtel zu Anfang, das in seiner Gänze die Potenziale
von Rockmusik auslotet, muss nicht übersetzt werden. Dafür gehört es
bereits jetzt in die Galerie der klassischen Albumeröffnungen von Iggy Pop.
In der Sammlung des 75-jährigen US-Punk-Ersttäters steht Iggys im hohen
Bogen in den Straßenstaub geworfenes „Well, alright“ vom Debüt der
[2][Stooges]. Auf jenem musikgewordenen Fehdehandschuh definierte das
Proto-Punk-Quartett 1969 die böse funkelnde Ästhetik des Schmutzrock und
machte schnell klar, es ist rein gar nichts in Ordnung und will es auch
nicht mehr werden.
1980 stellte Iggy Pop sein grandios verunfalltes „Soldier“ unter das Motto
„My momma told me/If I was goody/That she would buy me/A rubber dolly“.
Iggy Pop schlägt sich durch im amorphen Bereich zwischen Aggression und
Komik. Das ist längst nicht alles, und das ist auch auf „Every Loser“ der
Fall. Atmosphärisch dockt die Musik an eine Großtat wie dem 1979
erschienenen „New Values“ an, wobei das Pendel auf „Every Loser“ in
Richtung eines Humors ausschlägt, der Ernst macht.
## Kurz zur Statistik
Rockmusik schert sich nicht um Rechnungsführung und Statistik, aber etwas
davon muss sein. „Every Loser“ ist Iggy Pops 19. Studioalbum und umfasst in
gerade einmal 37 Minuten elf Songs. Der kürzeste dauert eine, der
komplexeste sechs Minuten. Iggys Begleitung auf „Every Loser“ ist zumeist
ein Trio aus dem [3][Ozzy-Osbourne]-Produzenten Andrew Watt an den
Gitarren, dem Drummer der [4][Red Hot Chili Peppers], Chad Smith, und Duff
McKagan von [5][Guns N' Roses]. Diese Besetzung lässt erahnen, dass „Every
Loser“ anders klingt als sein Vorgänger, [6][der tolle anti-rockistische
„Free“ von 2019].
„Every Loser“ ist Wutmusik. Niemand allein hat übrigens ein Anrecht auf
Wut, von daher geht „Every Loser“ als ein sehr demokratisches Album durch.
Ein Song wie „Frenzy“ steht in einer langen Tradition einer in der
Rockmusik unverzichtbaren Fertigkeit, der des Fluchens und des Zeterns, und
das nicht zum Selbstzweck. Im zweiten Stück und ersten Highlight des Albums
ist das Tempo gedrosselt.
Der [7][Anti-Drogen-Song „Strung Out Johnny“] wird von dem Experimental-
und Red Hot Chili Peppers-Musiker Josh Klinghoffer an Gitarren, Piano und
Keyboards psychedelisch grundiert. Dass die Dealer im Text die Vornamen
zweier gewesener US-Präsidenten tragen, kann kein Zufall sein: „Ronny said
to Donnie/Sell that boy a spoon.“ [8][Der Wikipedia-Eintrag zur Opioidkrise
in den Vereinigten Staaten] beziffert die Überdosis-Opfer im Zeitraum
zwischen Juli 2021 und Juni 2022 auf mehr als 107.000 Menschen und fügt an:
„Der größte Teil von ihnen war von Schmerzmitteln abhängig geworden, die
zuvor verschrieben worden waren.“
## Trügerisches Rentnerparadies
Den dritten Song „New Atlantis“ beginnt Iggy Pop mit balladesk begleitetem
Sprechgesang, bevor das Stück sich zu einer Art Breitwand-Psychedelik
inklusive eines prägnanten Gitarrenriffs aufschwingt. Textlich zeichnet
„New Atlantis“ das Bild einer trügerischen Idylle. Iggy Pop hat seiner
Wahlheimat – dem Rentnerparadies Miami – eine nicht schmeichelnde
Liebeserklärung geschrieben; er weiß, dass die pittoreske Hafenstadt dem
durch den Klimawandel ansteigenden Meeresspiegel nicht ewig standhalten
wird.
Nach der potentiellen Elegie der konkrete Krawall: „Modern Day Ripoff“, ein
weiteres Highlight, ist ein höchst energetischer Garagerock-Kracher. Das
von Andrew Watt gespielte Piano erinnert an John Cales Hammer-Klavier auf
[9][„I Wanna Be Your Dog“, der submissiven Hymne auf dem Stooges-Debüt].
„Modern Day Ripoff“ ist auch Paradebeispiel für die Stimmakrobatik des
Leguans. Iggy ist der Mann, der nicht dekonstruiert werden muss, so lässt
er das R aus dem Titel „Rrrrippp Off“ rollen. Die Ballade „Morning Show“
beschließt die erste Hälfte des Albums.
Dann gibt es einen kleinen Stilbruch, der sich überraschend organisch in
das Klangbild von „Every Loser“ einfügt: „The News For Andy“ ist ein
jazzig-funkiges Zwischenspiel mit einem Sechszeiler. Mehr davon würde aus
dem sehr guten Werk kein schlechteres machen, nur ein anderes: Jazz hat bei
Iggy Pop seit jeher einen Stein im Brett.
## Und immer wieder: Jazz
In Interviews schwärmt er stets von John Coltrane, das zweite Stooges-Album
„Funhouse“ begründete ein Genre wie Punk-Jazz, und Iggy Pop hat den daran
wesentlich beteiligten Saxophonisten Steve Mackay auf dessen hörenswertem
Album „Sometimes Like This I Talk“ die Stimme geliehen.
„Every Loser“ geht bis in Richtung Hardcore: Im Spottlied „Neo Punk“ kl…
Travis Barker von Blink-182 die Drums. Pearl Jam-Gitarrist Stone Gossard
ist auf „All The Way Down“ zu hören, einer trotzigen Fortschreibung von
„Strung Out Johnny“. In „Comments“ spielt Taylor Hawkins Drums, Perkuss…
und Piano. Der Foo-Fighters-Musiker ist 2022 den Drogen erlegen. Iggy Pop
hat nur schwer, aber schließlich in den Achtzigern doch den Ausstieg aus
der Abhängigkeit gefunden. Auf „Every Loser“ erinnert er an Hawkins.
Iggy Pop ist ein Gesamtkunstwerk: Als Schauspieler ist er etwa [10][bei Jim
Jarmusch aufgetreten]. Auf „Every Loser“ hat er ein retardierendes Moment
untergebracht. „My Animus Interlude“, das Zwischenspiel, erinnert in Stimm-
und Tonfall an [11][die düstere EP „The Dictator“ der Komponistin Catherine
Graindorge], für die Iggy Pop gesungen hat.
## Lakonischer Schienenstrang
Natürlich ist er auch an bildender Kunst interessiert, auf dem Cover ist
die lakonische Zeichnung eines Bahngleises zu sehen. Entworfen hat sie
US-Maler Raymond Pettibon, bekannt geworden durch seine Arbeiten für Bands
wie Black Flag und das Label SST. Namen, die sich wiederum dem Werk von
Iggy Pop verdanken. Die Zeichnung führt den Rockismus der Musik ad
absurdum.
Große Kunst ist auch das Finale von „Every Loser“: der Song „The Regency…
mit seinem balladesken Anfang und den plötzlichen, sechsmaligen Wechseln.
Das Tolle an Rockmusik war und ist der Moment, wenn man sich einen Text
beim Hören schreibt. „Fuck The Regency“ klingt wie „Fuck Your Idiocy“.…
ist beileibe keine Beleidigung aller integren Idioten, sondern der
Mittelfinger [12][an das kaputtmachende Ganze, an Kapitalismus und Krieg].
Das Luxusleben Iggy Pops, in den Worten der großen wütenden Nina Simone ein
„rebel with a cause“, ist dagegen kein Widerspruch.
5 Jan 2023
## LINKS
[1] https://youtu.be/GwB2EZS9x9I
[2] /Stooges-Musikdoku-Gimme-Danger/!5402001
[3] /Ozzy-Osbournes-Autobiografie/!5144799
[4] /Neues-Album-der-Red-Hot-Chili-Peppers/!5112697
[5] /Neuauflage-von-Guns-N-Roses-Debuet/!5527028
[6] /Neues-Album-von-Iggy-Pop/!5635408
[7] https://youtu.be/qbQHlQ-tubY
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Opioidkrise_in_den_Vereinigten_Staaten
[9] https://youtu.be/3gsWt7ey6bo
[10] /Kinofilm-The-Dead-Dont-Die/!5602596
[11] /Neue-Musik-von-Al-Qasar-und-Iggy-Pop/!5899871
[12] /Uebersetzung-eines-Popdiskurs-Klassikers/!5636713
## AUTOREN
Robert Mießner
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