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# taz.de -- 1970er-Alben neu entdecken: Mit der Faust aufs dritte Auge
> Er lehrte Kontrapunkt und spielte bei Iggy Pop Klavier. Nun sind alte
> Alben des US-Künstlers „Blue“ Gene Tyranny neu erschienen.
Bild: Was für ein Künstlername! Robert Sheff alias „Blue“ Gene Tyranny
Da perlt der [1][Yachtrock] über ein Akkordgerüst, gediegen eingerichtet
wie ein kalifornisches Case-Study-House, ein künstlich schmachtendes
Saxofonsolo legt sich drüber, um von einer silbrigen Synthiefolie
gespiegelt in aufdringlich hübsche Ostinati überzugehen und wegzutrippeln
wie ein etwas überdrehter Tanzroboter. Sind wir bei einem japanischen
Steely-Dan-Nachbau gelandet
Nein, ein dem mittleren Zappa zuzutrauender Zicken-Funk fügt sich als
zweites Stück unwirklich kompetent an diese Musik, die man als ironische
Verneigung vor schön-seelenloser Studiosophistication, ebenso wie als von
zukünftigen Aliens bemüht, aber verständnislos rekonstruierte kalifornische
Befindlichkeit der Siebziger verstehen kann.
Aber alle Ver- und Entfremdungsoperationen an vertrauten Genres führen
nicht zur Distanzierung des Herzens, paradoxerweise bringen sie uns sogar
näher an eine Musik, von der der Ballast genommen wurde, zwischen ihren
Nachbarn und Konkurrenten existieren zu müssen. Was in aller Welt ist das?
## Undogmatischer Zirkel
Die Antwort: „Out of the Blue“ ist das 1978 erschienene Debütalbum eines
Mannes mit damals schon beachtlicher Vergangenheit. Robert Sheff gehörte
zum Kreis des Komponisten Robert Ashley (1930–2014), einer der wichtigsten
Figuren von Neuer Musik und Musiktheater in den USA: Neben Ashley haben
Leute wie Gordon Mumma und spätere Jazzer wie Bob James seit den 1960ern
ursprünglich um das legendäre ONCE-Festival herum einen non-dogmatischen
Zirkel von Komponisten und Musikern gebildet.
Dieser hat mit Minimal, konkreter Musik und allen Spielarten elektronischer
Produktion gearbeitet, aber sich auch immer wieder und oft auch sehr formal
für Rockmusik, später vor allem New Wave – Ashleys Opern der 80er sind der
exquisiteste Synthi-Pop – und alle möglichen Spielarten von industriellem
Easy Listening, aber auch Country und Americana interessiert.
Als Ashley in den Siebzigern sein Label Lovely Music Ltd. gründete, waren
Sheff und der später mit Bands wie dem Love of Life Orchestra bekannt
gewordene Peter Gordon neben Musiker*innen mit lustigen Namen wie Phil
Harmonics seine ersten Künstler.
Sheff ist wahrscheinlich der einzige Mensch, der mal Mitglied (Pianist) von
[2][Iggy & The Stooges] war – in einer sehr späten Inkarnation der
mittleren 1970er – und an einer Hochschule Kontrapunkt gelehrt hat. Die
anderen souverän abgedeckten Gegensätze und antagonistischen Namen, mit
denen er angeben könnte, sind dann nicht so gewaltig weit voneinander
entfernt (Carla Bley und John Cage).
Doch hat er den derart bereits mit Ruhm bekleckerten Namen Sheff dennoch
für seine Veröffentlichungen bei Lovely abgeschafft: Von nun an hieß er
„Blue“ Gene Tyranny wie ein R&B-Shouter der 1950er oder eine Figur der
„Simpsons“, er hatte offensichtlich ein Pop-Begehren. Dabei sind nur die
ersten beiden (von vier) Tracks des nun wiederveröffentlichten Albums „Out
of the Blue“ solche produktiv verwirrenden Beiträge zu einer
Pop-Musik-Theorie.
## Die Nähe von Minimal zu Rock
Insbesondere das letzte Stück, die Mini-Oper „A Letter From Home“, mit
cool-sphärisch vibrierenden, harmonisch aufgeladenen Background-Sounds und
sehr lässig gesprochenen Monologen, nimmt stilistisch bereits das von
Ashley und Tyranny in den Achtzigern perfektionierte Musiktheater vorweg.
Es ist eine andere neue Veröffentlichung eines, damals allerdings nicht
erschienenen Dokuments, die noch deutlicher zeigt, was Musiker aus der
Ashley-Schule in den Siebzigern von Rock wollten: „Trust in Rock“, ein
langer, auf Tripple-Album veröffentlichter Mitschnitt eines Doppelkonzerts,
das Tyranny und Peter Gordon zwei Jahre vor dem Erscheinen des Debütalbums
1976 im kalifornischen Berkeley gegeben haben.
Kulturelle Nähe und formale Ähnlichkeit zwischen Rock und Minimalismus sind
immer mal wieder aufgefallen. Zwar wollte die eine Seite die Straße
(plebejische Kunst) ermächtigen, während die andere Irrwege der High Art
(leere Komplexität) zu korrigieren sich anschickte, also hier sozial
transformierende, dort immanente Ziele überwogen.
Dennoch haben sich beide Seiten immer mal wieder angenähert: Tony Conrad
und John Cale liefen vom Minimalismus zu [3][Lou Reeds simplem Rock] über.
Cale blieb dort und nahm, nun als Rocker, ein Album mit dem Minimalisten
Terry Riley auf. Soft Machine adaptierten Riley, wie so manche deutsche und
schwedische Krautband, in eine neue Runde ging das Spiel natürlich mit
Techno und Ambient.
## Wirkung ohne Krawall
Trotzdem kann man sagen, dass das insistierende Medium des Minimalen, das
beide verband, nun auch die Pop- und Rockmusik auf Konzentration, ja
Meditation und Spiritualität hin öffnete. Auch die vielen in den letzten
Jahren (wieder-) entdeckten (queeren) Minimalist*innen mit darüber hinaus
gehenden Interessen – Julius Eastman, Arthur Russell, Catherine Christer
Hennix – haben doch dieses gemeinsam: Sie wollen zwar Wirkung, aber keinen
Krawall, nicht mit der Faust aufs dritte Auge.
Auf „Trust in Rock“ werden verschiedene Ziele verfolgt, mindestens zweimal
geht es aber genau darum: Krawalliger Boogie-Rock wird enthusiastisch
zelebriert und dann in eine minimalistische Orgie getrieben.
Bei Peter Gordon, der ja nicht nur zur Ashley-Welt gehörte, sondern in den
80ern von Thomas Fehlmann über David Byrne bis zu Lawrence Weiner mit tout
Lower Manhattan Projekte am Laufen hatte, hat man zweimal exakt das Gefühl,
dass er eine Art Mott-The-Hopple-Sound, komplett mit
Ian-Hunter-Boogie-Piano und Rock-Klimax in irgendeinem entscheidenden
Moment an eine unsichtbare minimalistische Kandare nimmt, um das
Bierflaschenschwenken in eine unerwartet kosmische Harmonie einzutragen.
In anderen Stücken ist erst die gerne metrisch vertrackte minimale Ordnung
da, die durch Instrumentierung und Impetus nach gewisser Zeit nach Bier zu
schmecken beginnt. Ein Stück wie Gordons „Intervallic Expansion“ geht aber
noch darüber hinaus: Der Minimal-Rock steigert seine Vertracktheit und die
repetitionsinduzierte Rammdösigkeit in gleichem Maße.
Man fragt sich die ganze Zeit, ob da bald eine Grenze erreicht sein wird.
Es geht aber immer weiter. Und das ist ja immer das Beste. Auf das
Konzert-Plakat des Doppelkonzerts hatten Tyranny und Gordon damals
geschrieben: „Your new concept in music“.
## Machomusic und Rockism-Kritik
Dazu kommt aber noch ein anderes Anliegen. Der erste Track dieser Art bei
Gordon heißt „Machomusic“: Ich glaube, auch das ist ein erstes Mal. Dass
jemand diese faszinierende Überschneidung von tiefer Meditation und
fröhlichem Biertrotteltum, ja den ganzen expansiven Ethos von Rock, sein
expansives Auf-der-Stelle-Treten aus formalen Gründen machohaft genannt
hat.
Inhaltlich gab es das schon: Der große und leider verstorbene NDR-Moderator
Klaus Wellershaus hat mir als Zwölfjährigen den Begriff des „Male
Chauvinism“ anhand des Textes von „Under My Thumb“ erklärt, aber den Mac…
in der Form hat eigentlich erst die Rockism-Kritik des britischen
Musikmagazins NME in den frühen Achtzigern erstmals begrifflich dingfest
gemacht (und nicht viele haben damals zugehört).
Auf die formale Übung der „Machomusic“ kommen nun aber drei Songs bei
Gordon, die dieselbe Patrice Magnet vorträgt, die schon die Live-Fassungen
der „Out of the Blue“-Songs von Tyranny gesungen hat. Sie ist der Star des
Triple-Albums.
Diese Songs aber, die von den langen male chauvinist self-reflexive
Exerzitien gerahmt sind, stammen nun samt und sonders von einer sehr jungen
Kathy Acker. Ausgiebige Balladen, ironisch, dramatisch, erzählerisch, eher
Country & Western als Rock, verbauen die leichten Auswege, die ein
Sichzurückziehen auf die externe Schläue, mit der Neue-Musik-Leute auf
Rock-Formen schauen, angeboten hätten.
Die weibliche, wenn nicht feministische Stimme muss immer noch ganz andere
Tonlagen einführen und demonstrieren, dass ein Drittes zentral ungeklärt
bleibt, wenn das Plebejische und der formale Durchblick in kosmischer
Rammdösigkeit sich treffen. Leider habe ich nicht herausgefunden, was aus
Patrice Magnet geworden ist. Ihre Spur verliert sich im Spanien der 80er
Jahre. Vielleicht eine Namensänderung?
10 Aug 2019
## LINKS
[1] /Yacht-Rock--eine-Begriffsbestimmung/!5014949
[2] /Stooges-Musikdoku-Gimme-Danger/!5402001
[3] /Lou-Reed-ist-tot/!5056234
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
## TAGS
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