| # taz.de -- Bad-Religion-Sänger Graffin über Punk: „Eine Rebellion des Geis… | |
| > Greg Graffin, Sänger der Hardcorepunkband Bad Religion, hat seine | |
| > Autobiografie veröffentlicht. Ein Gespräch über Offenheit und Charles | |
| > Darwin. | |
| Bild: Fan von „Jesus Christ Superstar“: Greg Graffin | |
| taz: Mr Graffin, Sie entsprechen nicht gerade dem Klischee, das manche mit | |
| Punk verbinden, oder? | |
| Greg Graffin: Nein, mit meinem Lebensweg als Evolutionsbiologe und | |
| Universitätsprofessor erfülle ich bestimmt keine Punk-Stereotype. Trotzdem | |
| hat meine Biografie etwas Punkiges, denn für mich bedeutet Punk eher eine | |
| Rebellion des Geistes. Die Art und Weise, wie ich die Welt betrachte, kann | |
| rebellisch sein. Ich hatte das große Glück, diese Weltsicht mit meiner Band | |
| Bad Religion und ihren Fans zu teilen. | |
| Viele erkennen die intellektuellen Seiten, die Punk auch hat, bis heute | |
| nicht an. | |
| Das ist richtig. Wenn man sagt, man mag Punkmusik, denken viele Menschen | |
| immer noch, dass man auf Gewalt, Drogen und Alkohol steht. [1][Das hat aber | |
| nichts mit dem zu tun, was ich als Punk erlebt habe.] | |
| Wird die kulturelle Leistung von Punk heute denn überhaupt anerkannt? | |
| Punk ist inzwischen Teil der Populärkultur geworden. Das ist in gewisser | |
| Weise wirklich paradox, weil Punk als Sub- und Gegenkultur klein angefangen | |
| hat, aber jetzt in jedem Haushalt in den USA und wahrscheinlich auch in | |
| Europa und fast überall auf der Welt zu finden ist. Aber wenn man einen | |
| Schritt zurücktritt und sich für die Geschichte von Punk interessiert, | |
| würde man feststellen, dass wirklich fast alle etwas für sich aus dieser | |
| Subkultur ziehen können. | |
| Erklären Sie in Ihrer Autobiografie „Punk Paradoxon“ also auch Ihr | |
| persönliches Verständnis von Punk? | |
| Mein Buch ist sicher kein Manifest, und ich will darin auch nicht erklären, | |
| wie oder was Punk zu sein hat. In meiner Autobiografie beschreibe ich eher | |
| eine persönliche Reise. Ich versuche, mich selbst und die Figur in dem Buch | |
| zu verstehen. Die Hauptfigur ist ein Typ, der in der Industriestadt | |
| Milwaukee in Wisconsin im Mittleren Westen aufwächst, dann mit seiner | |
| Mutter nach Los Angeles, Kalifornien, zieht und dort 1980 Teil der | |
| Hardcore-Punkszene wird. Es war ein in vielerlei Hinsicht fremdes | |
| kulturelles Umfeld, in das ich in L. A. hineingeriet. | |
| Ein wichtiges frühes Pop-Album war für Sie allerdings kein Punkalbum, | |
| sondern das Musical „Jesus Christ Superstar“. Warum denn ausgerechnet das? | |
| Ja. Der Komponist Andrew Lloyd Webber stellt Jesus in dieser Oper als | |
| Außenseiter dar, als Punkrocker seiner Zeit. Diese Geschichte hat mich | |
| schon als kleines Kind in seinen Bann gezogen. Auch die Musik war so gut, | |
| dass sie mich nachhaltig beeinflusst hat. | |
| Ihre Familiengeschichte ist traurig. Sie erzählen von der Trennung Ihrer | |
| Eltern, aber auch von Ihrem Stiefvater, den Ihre Mutter vor die Tür setzt, | |
| nachdem er ihr gegenüber gewalttätig wurde. | |
| Sicher gab es in meiner Familie Schwierigkeiten, über Generationen hinweg. | |
| Doch eigentlich begleiten jeden Menschen solche Schwierigkeiten, die er in | |
| seiner Familie erlebt hat, durchs Leben. Üblicherweise werden sie unter den | |
| Teppich gekehrt. Das führt dazu, dass sie unverarbeitet bleiben und auf | |
| ungesunde Art in den Erwachsenen weiterwirken. Meine Geschwister und ich | |
| waren Akademikerkinder. | |
| Das heißt, Sie sind privilegiert aufgewachsen? | |
| Ja und nein. Universitäten atmen einen Geist von Offenheit und Transparenz, | |
| das haben wir vielleicht schon als Kinder mitgenommen. Das spiegelt sich in | |
| meinem Buch auch wider, glaube ich. Ich stelle mich nicht als Opfer dar. | |
| Ich versuche zu verstehen, wie dieser Background meinen Lebensweg und meine | |
| Weltsicht geprägt hat. | |
| Haben Sie auch eine Therapie gemacht? | |
| Ja, ich habe einige Jahre mit Psychotherapie verbracht – um das zu | |
| erreichen, was ich gerade beschrieben habe. | |
| Haben Sie durch ihren Stiefvater – einen Jazzmusiker – begriffen, wie viel | |
| Freude Musik machen kann? | |
| Nein, eigentlich nicht. Auch das kann ich nur psychoanalytisch deuten. Ich | |
| habe mich selbst als Muttersöhnchen in Erinnerung. Diesen Mann, den | |
| Musiker, hat meine Mutter als das Größte auf Erden betrachtet. Vielleicht | |
| wollte ich deshalb schon als kleiner Junge Sänger werden, weil ich um die | |
| Aufmerksamkeit meiner Mutter buhlte. Meinen damaligen Stiefvater habe ich | |
| deshalb gut beobachtet und von ihm gelernt. | |
| Ihre Mutter beschreiben Sie als Feministin. | |
| Ja. In unserem Haushalt war klar, dass man eine Person immer nach ihrem | |
| Charakter beurteilt, nicht etwa nach äußerlichen Merkmalen oder ihrem | |
| sozioökonomischen Hintergrund. Es war zum Beispiel bei uns tabu, Witze über | |
| Dicke zu machen, Menschen aufgrund ihrer körperlichen Merkmale zu | |
| beurteilen. Meine Mutter hatte da eine klare Haltung. | |
| Also Feminismus verstanden als Toleranz in alle Richtungen? | |
| Ja. Außer wenn jemand dumme Dinge sagte, die nicht der Wahrheit | |
| entsprachen: Dann sollten wir widersprechen. In unserer Familie musste das, | |
| was eine Person öffentlich sagte, auf Fakten und Informationen basieren. | |
| Als Wissenschaftler und rationaler Mensch müssen die vergangenen Jahre in | |
| den USA mit Verschwörungstheorien, Hetze und Fake News der reinste Horror | |
| für Sie gewesen sein. Was gibt Ihnen Hoffnung? | |
| Die niedrigschwelligen Medien von heute haben auch eine hoffnungsvolle | |
| Seite: Die Hoffnung, dass sie einmal von verantwortungsbewussten und | |
| intelligenten Menschen betrieben werden. Nicht von Menschen, denen es | |
| ausschließlich um Profit geht. Ich habe 1989 den Song „Only Entertainment“ | |
| komponiert, um eine Kritik an den damals beginnenden | |
| Nonstop-24-Stunden-Nachrichtenzyklen zu formulieren. | |
| Warum? | |
| Seinerzeit ging es mir darum, dass Nachrichten faktenbasiert sein sollen | |
| und dass verantwortungsbewusst berichtet wird. Denn es zeichnete sich schon | |
| ab, welche Entwicklung die Medien nehmen würden. Heute heißt das Prinzip im | |
| Netz Clickbaiting: Es geht nur darum, die Aufmerksamkeit der Menschen auf | |
| dein Profil, dein Netzwerk und auf Werbung zu lenken. | |
| Zwei sehr unterschiedliche Dinge haben Ihr Leben (mit-) bestimmt: Charles | |
| Darwins Evolution der Menschheit und Punkrock. Gibt es Parallelen zwischen | |
| beiden Welten? | |
| Die Erkenntnisse zur Evolutionstheorie [2][hat Charles Darwin gewonnen, als | |
| er um die Welt reiste und die Natur betrachtete.] Sie standen aber im | |
| Widerspruch zum Zeitgeist. Er wusste, dass er sehr kühne Ideen hatte, aber | |
| die Zeit war noch nicht gekommen, diese Ideen zu verbreiten – obwohl sie | |
| auf Fakten beruhten. Was tat er? Er wartete zwanzig Jahre, ehe er „On the | |
| Origin of Species“ veröffentlichte. Bei Erscheinen, 1859, waren die Leute | |
| aufgeschlossener, die Gesellschaft hatte sich bereits verändert. | |
| Aber ist Darwin noch Punk? | |
| Auch Punk war zunächst zu schockierend für die Gesellschaft, heute ist Punk | |
| alltäglich. Die Parallele liegt also darin, dass Gesellschaften Zeit | |
| brauchen, bis sie sich verändern. | |
| 30 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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